„Jetzt werden wir regieren“

Die Grünen-Vorsitzende Marine Tondelier sieht die siegreiche linke Volksfront bereits an der Regierung. Notfalls auch ohne absolute Mehrheit. Auch Jean-Luc Mélenchon von La France Insoumise erhebt Ansprüche

Marine Tondelier klatscht

… doch die GrüneMarineTondelier hatgute Chancen,von der LinkenVolksfront alsPremierminis-terin ins Rennengeschickt zuwerden Foto: Alain Jocard/afp

Aus Paris Rudolf Balmer

Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron reist am Dienstagabend zum Nato-Gipfel nach Washington. Die Innenpolitik kann warten. Das Treffen mit seinen Amts­kol­le­g*in­nen gibt ihm Zeit, über die Enttäuschung der Parlamentswahl hinwegzukommen und zu überlegen, wie er aus der politischen Sackgasse herauskommt, in die er sich und das Land mit der Auflösung der Nationalversammlung und den Neuwahlen gebracht hat. Was Macron tun muss: den Premierminister ernennen. Doch noch am Wahlabend am Sonntag ließ er mitteilen, dass er sich damit Zeit nehmen wolle.

Bereits kurz nach Veröffentlichung der ersten Hochrechnungen hatte Gabriel Attal angekündigt, als Premierminister zurückzutreten. Am Montagvormittag bot er dann Staatschef Macron seinen Rücktritt an. Der jedoch lehnte ab und bat seinen Regierungschef, „für den Moment und im Interesse der Stabilität des Landes“ samt seinen Ministern im Amt zu bleiben. Macron will damit vor allem für die kommenden Wochen, in denen in Paris die Olympischen Sommerspiele stattfinden, eine offene Regierungskrise vermeiden.

Für Macrons Entscheidung, nach der Europawahl Neuwahlen einzuberufen, hatte es viel Kritik gegeben. Sein Kalkül, mit einem solchen Wahlpoker die politischen Kräfteverhältnisse zu seinen Gunsten zu verschieben, ging nicht auf. Und statt wie versprochen politische Klarheit zu schaffen, ist die Lage nach der Wahl komplizierter denn je.

In der neuen Nationalversammlung gibt es nun drei große Blöcke: erstens die Linksparteien der Neuen Volksfront (Nouveau Front Populaire – NFP) mit 182 Sitzen. Dazu gehören die Sozialisten, die Grünen, die Kommunisten und La France Insoumise (LFI). Zweitens die macronistischen Parteien der Allianz Ensemble mit insgesamt 168 Abgeordneten. Drittens das rechtsextreme Rassemblement National (RN), das zusammen mit ein paar Abtrünnlern der rechten Partei Les Républicains (LR) auf lediglich 143 Sitze kommt. Les Républicains kommen auf 60 Sitze. Keiner drei großen Blöcke hat auch nur annähernd die absolute Mehrheit erreicht, die bei 289 von 577 Stimmen liegt.

Diese Ausgangslage macht es Macron nicht gerade leicht. Die Verfassung stellt es ihm frei, einer Person seiner Wahl die Verantwortung der Regierungsbildung zu übertragen. In der Regel ist das ein führendes Mitglied der stärksten Fraktion. Daran ist Macron allerdings nicht gebunden.

Laut dem Verfassungsrechtler Dominique Rousseau in der Zeitung Libération entspräche es den republikanischen Gepflogenheiten, dass der Staatspräsident zunächst jemanden aus den Reihen der linken Volksfront nominiert – da diese die Mehrheit der Stimmen erhalten hat. Sollte die Person keine Regierung hinter sich vereinen können, könnte Macron auch den anderen Fraktionen eine Chance geben.

Verfassungsrechtlich ist es aber auch möglich, beispielsweise die bisherige Regierung des Macronisten Gabriel Attal so lange im Amt zu lassen, wie es dem Präsidenten Macron beliebt. Wie sinnvoll das ist, ist eine andere Frage: Attals Partei Ensemble hat mit den Neuwahlen 87 Sitze verloren (von 250 auf 163). In einer so schwachen Position können lediglich laufende Geschäfte abgewickelt werden. Regieren sieht anders aus.

„Eine Minderheitsregierung kann amtieren, wenn sie nicht (durch einen Misstrauensantrag) gestürzt wird“, schreibt der Verfassungsrechtler Dominique Rousseau. Nicht die Regierung müsse beweisen, dass sie das Vertrauen der Nationalversammlung hat. Sondern umgekehrt müssten die oppositionellen Abgeordneten den Beweis erbringen, dass dieses Vertrauen nicht existiert.

„Wir werden uns noch in dieser Woche auf unseren Regierungschef einigen“

Aurélie Trouvé, La France Insoumise

So könnte auch die Volksfront demnächst versuchen, eine Regierung zu bilden. Immerhin hat sie die meisten Stimmen erzielt – müsste ohne Koalitionspartner allerdings eine Minderheitsregierung bilden.

„Wir haben gewonnen, jetzt werden wir regieren“, rief Marine Tondelier auf der Siegesfeier der Volksfront. Die 37-jährige Vorsitzende der Grünen, die mit ihrer hellgrünen Weste gut sichtbar eine führende Rolle in der Wahlkampagne gespielt hat, gilt für die französischen Medien als Favoritin unter den möglichen An­wär­te­r*in­nen auf den Posten des Premierministers oder der Premierministerin einer Linksregierung.

Sie ist aber nicht die Einzige, die im Rennen ist. Zu den Namen, die am häufigsten genannt werden, gehört der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon von LFI, der indes bei den anderen Parteien wegen seiner ständigen Provokationen mittlerweile auf Ablehnung stößt. Raphaël Glucksmann wäre wiederum seitens der Sozialisten, für die er bei den Europawahlen ein unverhofft gutes Resultat erzielt hatte, der geeignete Mann. Glucksmann selbst schlug indes den früheren Gewerkschaftsboss Laurent Berger vor.

Jean-Luc Melenchon schaut aus einem Vorhang hervor

Jean-Luc Mélenchon sieht sich als Wahlsieger … Foto: Thomas Padila/ap

Die internen Diskussionen innerhalb der Volksfrontparteien, wer welche Rolle in der möglichen künftigen Regierung spielen soll, laufen nicht ohne Spannungen ab. Politische Gegner von rechts und links versuchen, das für sich auszunutzen. Bei einer Fernsehdebatte sagte ein Sprecher des RN, die linke Wahlunion werde bereits an der Frage eines zukünftigen Premierministers zerbrechen. Darauf antwortete die LFI-Abgeordnete Aurélie Trouvé voller Zuversicht: „Wir haben uns in bloß vier Tagen auf eine Volksfront geeinigt, auf gemeinsame Kandidaturen in allen Wahlkreisen und auf ein gemeinsames Programm mit 150 Punkten. Wir werden uns auch noch in dieser Woche auf den Namen unseres Volksfront-Regierungschefs einigen.“

Die neue Nationalversammlung wird am 18. Juli zu einer außerordentlichen Sitzung zusammentreten. Dabei soll zunächst ei­n*e Vor­sit­zen­de*r gewählt und alle anderen Ämter besetzt werden. Ein neues Ministerkabinett ist dazu nicht erforderlich, falls Attal immer noch offiziell im Amt bleibt. Falls es dem Präsidenten später nicht gelingt, einen Regierungschef zu nominieren, könnte es zu einer neuen Machtprobe kommen.

Laut dem Verfassungsrechtler Dominique Rousseau bliebe dann womöglich dem Präsidenten nichts anderes übrig, als selbst zurückzutreten – was er bisher ausgeschlossen hatte. Rousseau verweist auf einen Präzedenzfall vor exakt hundert Jahren. Da der damalige Präsident Alexandre Millerand nicht in der Lage war, eine Regierung einzusetzen, zwangen ihn die Parlamentsparteien zum Rücktritt. Auch damals fanden in Paris die Olympischen Spiele statt.