Berliner Problemwölfe

Auch in Berlin ist die rechtsextreme Ülkücü-Bewegung aktiv. Die EM könne dazu beitragen, ihre Symbole zu normalisieren, sagen Be­ob­ach­te­r*in­nen. Das gefährde Jugendliche, und sei einschüchternd, etwa für Kur­d*in­nen

Nationaler Freuden­taumel: Türkische Fans in Kreuzberg feiern den Sieg ihrer ­Mannschaft Foto: K.M. Krause/snapshot-­photography/imago

Von Uta Schleiermacher

Mittelfinger und Ringfinger liegen auf dem nach vorn gestreckten Daumen auf, wie eine stilisierte Schnauze. Zeigefinger und kleiner Finger zeigen nach oben, sie sollen zwei Ohren darstellen. Der sogenannte Wolfsgruß war auch bei den Freudenfeiern nach den gewonnenen Türkeispielen in Berlin vielfach zu sehen. Er ist das Erkennungszeichen der Grauen Wölfe, also türkischer Rechtsextremist*innen.

„Wir sind noch dabei, Videos auszuwerten“, sagt Lea Lölhöffel, Koordinatorin bei den Berliner Registern. Die Register sammeln Infos zu Aktivitäten der extremen Rechten, zu rassistischen Vorfällen und Diskriminierungen. „Es haben so einige am Dienstagabend nach dem Spiel gegen Österreich auf der Fanmeile und am Breitscheidplatz den Wolfsgruß gezeigt.“ Wundern tut sie das nicht: „In der EM-Euphorie lassen Leute sich hinreißen“, sagt Lölhöffel. „Doch dabei handelt es sich ganz klar um ein rechtsextremes Symbol – und dass Fans es zeigen, ist höchst problematisch.“

Die Grauen Wölfe, auch Ülkücü – Idealisten – genannt, sind eine rechtsextreme, politische Bewegung, die in der türkischen Politik seit den 70er Jahren tief verankert ist. Ihre Ursprünge gehen bis in die 1940er Jahre zurück. Sie bildeten später den paramilitärischen Arm der Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi – MHP), heute faktischer Koalitionspartner von Präsident Recep Tayyip Erdoğan (AKP). Die Ülkücü verübten Tausende politische Morde, und trotz zwischenzeitlicher Verbote können sie bis heute als Handlanger des türkischen Staats betrachtet werden.

Auch in Deutschland sind sie aktiv. Der Verfassungsschutz stuft die Ülkücü als eine der größten rechtsextremen Gruppen in der Bundesrepublik ein und rechnet ihnen bundesweit rund 12.500 Mitglieder zu, von denen rund 10.500 in Vereinen organisiert sein sollen. In Berlin sollen es laut lokaler Behörde rund 450 organisierte Mitglieder sein. Größere Dachverbände sind die „Föderation der türkisch-demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e. V.“ (ADÜTDF), die „Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e. V.“ (ATİB) und die „Föderation der Weltordnung in Europa“ (ANF). In Berlin ordnet der Verfassungsschutz der ADÜTF jeweils einen Verein in Kreuzberg, Reinickendorf und Spandau zu, der ANF einen im Wedding.

„Die Berliner „Ülkücü“-Vereine treten nach außen nicht extremistisch auf und bemühen sich um ein gemäßigtes Image“, etwa über Kinder- und Familienfeste oder Fastenbrechen, schreibt der Verfassungsschutz. So sollen „auf niedrigschwellige Weise“ Menschen „in Kontakt mit der Ülkücü-Ideologie gebracht“ werden. Daneben sei in Berlin auch eine „ungebundene Szene türkischer Rechtsextremisten aktiv“. Diese lebten ihre rassistischen und antisemitischen Feindbilder offener aus, etwa in den sozialen Medien oder bei Aufein­andertreffen mit politischen Gegner*innen. Dabei zeige sich auch das hohe Gewaltpotenzial der Szene. Übergänge zwischen türkischem Patriotismus und rechtsextremistischen Einstellungen seien „oft fließend“.

„Die Gefahr, die von den Ülkücü ausgeht, kann man nicht anhand der vom Verfassungsschutz vermuteten Mitglieder bestimmen, das wäre zu wenig und würde das Problem verharmlosen“, sagt ein Sprecher von IBIM, einem Neuköllner Verein, der zu türkeibezogenem Rechtsextremismus in Deutschland arbeitet und als Anlaufstelle für Schulen bei türkeibezogenen Konflikten fungiert. „Es ist eine rechtsex­treme, politische Bewegung, der eine ultranationalistische Ideologie von,Turan‘, einem großtürkischen Reich, zugrunde liegt“, sagt er. Die Bewegung propagiere die Überlegenheit der „türkischen Rasse“, und werte alle als nicht türkisch angesehenen ethnischen, religiösen oder konfessionellen Gruppen ab. Sie sei darüber hinaus frauenfeindlich und richte sich besonders in den letzten Jahren gegen die LGBTIQ-Bewegung.

„Die Ülkücü schrecken nicht vor Gewalt zurück“, sagt der IBIM-Sprecher. In Berlin werde etwa der gewaltsame Angriff auf den Oppositionellen und Journalisten Erk Acarer der Bewegung zugeordnet. „Wenn nun der Wolfsgruß fälschlicherweise mit Türkischsein gleichgesetzt wird, ist das besonders für jüngere Menschen ein mögliches Einfallstor für die rechtsextreme Ülkücü-Ideologie.“ An Schulen etwa beobachte IBIM deutliche Sympathien für die Bewegung. Die Gesellschaft müsse wachsam sein und das im Keim ersticken. Daher fordert IBIM ein Verbot der Ülkücü und ihrer Symbole, so wie es etwa in Österreich und Frankreich schon in Kraft ist.

Besuch Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan will am Samstag das Spiel der türkischen Nationalmannschaft im Berliner Olympiastadion besuchen.

Diplomatie Am Donnerstag hat das Auswärtige Amt den türkischen Botschafter wegen der Torjubelaffäre einbestellt – nachdem die türkische Regierung Mittwoch den deutschen Botschafter einbestellt hatte.

Nationalismus Der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde in Deutschland befürchtet, Erdoğans Besuch könne „den türkischen Nationalismus in den Stadien und auf den Straßen noch einmal beflügeln“. (dpa)

Die Berliner Register listen vereinzelt Aktivitäten türkischer Na­tio­na­lis­t*in­nen und Rechtsextremer in Berlin auf. Etwa einen Anschlag auf das Parteibüro der damaligen kurdisch geprägten Oppositionspartei HDP im Zusammenhang mit den Wahlen 2016 oder Angriffe auf Wahlkampfstände 2021, daneben Angriffe bei Demos, Aufkleber oder Graffiti, etwa von den drei Halbmonden, dem Zeichen von MHP und ADÜTF. Im November 2023 seien bei einem Marsch türkischer Fans Richtung Olympiastadion Wolfsgrüße gezeigt worden – im Zusammenhang mit dem damaligen Freundschaftsspiel zwischen der Türkei und Deutschland. Allerdings vermutet Lölhöffel ein großes Dunkelfeld.

Dass sich nun während der Europameisterschaft Menschen positiv auf die Mannschaft und die Türkei beziehen, ist verständlich“, sagt Lölhöffel. „Problematisch ist, dass Ak­teu­r*in­nen diese Welle nutzen, um rechtsextreme, nationalistische Symbole zu normalisieren.“ Dabei käme dem Torschützen eine besondere Rolle zu. Merih Demiral, der in dem Spiel gegen Österreich nach seinem zweiten Tor mit beiden Händen den Wolfsgruß gezeigt hatte, sei für viele ein Vorbild. „Der wird gesehen, gehört, gefeiert. Wenn er nun sagt, da sei ‚keine versteckte Botschaft dahinter‘, und es zeige nur, dass er ‚stolzer Türke‘ sei, dann trägt er zur Normalisierung eines extrem rechten Symbols bei“, sagt Lölhöffel. „Und da müssen wir uns vergegenwärtigen: Das soll einschüchtern. Und das wird auch verstanden.“ Oppositionelle, Kurd*innen, Armenier*innen, Alevit*innen, auch Jüdinnen und Juden oder queere Menschen in Berlin fühlten sich davon bedroht.