Niedergang der Tories: Bis der Letzte fällt

Großbritanniens Konservative treiben nach Jahrzehnten der Selbstzerfleischung auf die Wahlniederlage zu. Wird es die schlimmste seit einem Jahrhundert?

Sunak läuft in den Räumen der Downing Street an Schwarz-Weiß-Portraits vorbei

Zur Tür raus: Noch-Premierminister Rishi Sunak erlebt am Donnerstag seinen wahrscheinlich letzten Tag im Amt Foto: Simon Dawson/Avalon/picture alliance

BERLIN taz | Machtwechsel in Großbritannien gehen schnell und brutal. Am Morgen nach der Wahlniederlage fährt der scheidende Premierminister im Dienstwagen mit Polizeieskorte zum Buckingham Palace, legt gegenüber dem König sein Amt nieder und ist augenblicklich nicht mehr Premierminister. Den Palast muss er mit eigenen Mitteln verlassen, Dienstwagen und Polizeieskorte warten auf den designierten Nachfolger, der wenig später als gewöhnlicher Mensch den Palast betritt und ihn als Pre­mier­minister wieder verlässt. Der Neue bezieht noch am selben Tag seinen Amtssitz samt Dienstwohnung in 10 Downing Street und hält eine Ansprache an die Nation vor der berühmten schwarzen Tür.

An diesem Donnerstag wird im Vereinigten Königreich gewählt. Bis Freitagmittag ist für Rishi Sunak voraussichtlich alles vorbei – keine zwei Jahre nachdem der konservative Regierungschef im Oktober 2022 seine Vorgängerin Liz Truss nach der kürzesten Amtszeit in der britischen Geschichte abgelöst hatte. Die war im September 2022 auf Boris Johnson gefolgt, der 2019 auf Theresa May gefolgt war, die 2016 auf David Cameron gefolgt war. Fünf Konservative innerhalb von sechs Jahren, und am Ende bleibt ein Scherbenhaufen. Es droht die womöglich schwerste Tory-Niederlage bei einer Parlamentswahl seit 1906, als sie von 402 auf 156 Sitze im Unterhaus abrutschten.

Heute liegen 156 Sitze schon eher am oberen Rand der Erwartungen für die Wahlnacht. Bei der letzten Wahl 2019 unter Boris Johnson holten die Konservativen noch eine satte absolute Mehrheit mit 365 der 650 Unterhausmandate und rechneten sich mindestens zehn weitere Jahre an der Macht aus. Ein paar Monate später kam Corona und die Welt war plötzlich eine andere – eine Welt, für die Boris Johnson, der in großen Visionen denkt und das Alltagsgeschäft des Regierens nicht beherrscht, denkbar ungeeignet war.

Johnsons aus den eigenen Reihen bewirkter Sturz gut zwei Jahre später war nur eine Frage der Zeit. Aber das befriedete die Tories nicht, im Gegenteil. Im Basisvotum vom Sommer 2022 setzte sich die Johnson-Anhängerin Liz Truss durch. Das war nicht vorgesehen. Sie war aber so inkompetent, dass es ein Leichtes war, sie nach sechs Wochen durch ihren unterlegenen Gegner Rishi Sunak zu ersetzen. Der sollte das festgefahrene Tory-Schiff wieder flottmachen. Aber wenn kein Mitglied der Crew den anderen über den Weg traut, kann kein Schiff vom Fleck kommen. Die Konservativen treiben seit Jahren ziellos auf dem sinkenden Schiff, während sich in der britischen Öffentlichkeit der Eindruck festsetzt, dass nichts mehr funktioniert und niemand sich kümmert.

Intrigen werden mit Gegenintrigen beantwortet

Das ist Labours Chance, und es ist das Ergebnis von Jahrzehnten konservativer Selbstzerfleischung. Vom Sturz der erfolgreichsten Tory-Premierministerin überhaupt, Margaret Thatcher, durch die eigenen Minister 1990 hat sich die Partei nie erholt. Sie ging 1997 in die Opposition gegen einen auftrumpfenden Tony Blair und fand erst 2010 unter David Cameron an die Macht zurück, schwächer und zerrissener als vorher. Schon das Brexit-Referendum 2016 war im Wesentlichen ein Erbstreit um Camerons Nachfolge zwischen dem beliebten Londoner Oberbürgermeister Boris Johnson und dem allmächtigen Finanzminister George Osborne. Das Johnson-Lager gewann das Referendum, aber das Osborne-Lager behielt die Kontrolle über den Parteiapparat und hievte Theresa May auf Camerons Posten. Erst als sie gescheitert war, kam dann doch Johnson dran, von Anfang an als eine Art Betriebsunfall bitter bekämpft.

Die Partei regiert kaum noch, sondern trägt endlose Hahnenkämpfe aus, deren Protagonisten völlig skrupellos agieren

Johnsons Gegnern gelang es jedoch frühzeitig, Rishi Sunak als Finanzminister im Kabinett zu installieren, der 2022 an der Spitze vieler anderer Minister Johnsons Rücktritt erzwang. Diese Intrigen wurden wiederum mit Gegenintrigen beantwortet. Heute sind die Konservativen eine von Misstrauen und Missgunst zerfressene Partei. Sie regiert kaum noch, sondern trägt endlose Hahnenkämpfe aus, deren Protagonisten völlig skrupellos agieren und sich allesamt mehr um das eigene Fortkommen scheren als um das Wohl des Landes.

Dafür dürfte es nun an der Wahlurne die Quittung geben. Alle Fraktionen innerhalb der Partei sind inzwischen davon überzeugt, der jeweilige Gegner treibe den Laden absichtlich in den Ruin, um hinterher die Scherben alleine aufsammeln zu können. Die aufmüpfige Tory-Rechte träumt von einer geläuterten populistischen Partei, die ihre alten korrupten Führungsstrukturen abgeschüttelt hat. Die damit gemeinten Eliten wiederum würden ihre peinlichen rechten Rivalen gerne abstoßen und wieder unter sich bleiben, als traditionelle technokratische Dauerregierungskraft ohne Ideologie, die allein alle Hebel der britischen Macht zu bedienen weiß und sich höchstens ab und zu eine Verschnaufpause in Form eines Labour-Interregnums gönnt.

Beide Lager zerschlagen lieber die eigene Partei, als sie dem parteiinternen Gegner zu überlassen. Die ehemalige Kulturministerin Nadine Dorries, die zum rechten Lager zählt, hat diesen desolaten Zustand in ihrem Buch „The Plot: The Political Assassination of Boris Johnson“ am schillerndsten beschrieben. Sie skizziert dort das Bild eines seit Jahrzehnten die Strippen in der Partei ziehenden Klüngels, der sich durch seine Kontrolle der Personalpolitik ewig halte und mit Mafiamethoden regiert: Skandale werden bewusst inszeniert oder an loyale Medien geleakt, um unbotmäßige Parteifreunde zu erpressen oder zu entmachten. Boris Johnson habe man gezielt den einstigen Brexit-Chefideologen Dominic Cummings, dem Johnson irrigerweise blind vertraute, als mächtigster Berater zur Seite gestellt, damit der den Premier zu Unsinn ermutigt und so demontiert.

Eine schwarze Frau als neue Tory-Chefin?

Das Buch mit größtenteils anonymen Quellen wurde nach seinem Erscheinen im Herbst 2023 weithin verlacht, aber bisher haben sich alle Vorhersagen darin bewahrheitet: Strippenzieher Michael Gove werde sich verabschieden; Rishi Sunak habe seine Schuldigkeit, Johnson zu begraben, getan und werde alsbald das nächste Opfer gezielter Demontage sein; als Nachfolgerin werde der Apparat Handelsministerin Kemi Badenoch aufbauen, prominenteste Schwarze der Tories. Am Wahltag erscheint die zweite Auflage des Buchs.

Tatsächlich wird die wortgewandte, streitbare Badenoch inzwischen in den Medien als Favoritin auf Sunaks Nachfolge an der Parteispitze gehandelt. Michael Gove hingegen tritt nicht mehr an, wie überhaupt fast alle bekannten Gesichter aus den vergangenen 14 konservativen Jahren die politische Bühne jetzt freiwillig verlassen. Und tatsächlich hat Sunak im Wahlkampf viele unerklärliche Fehler gemacht, die nur Sinn ergeben, wenn man ihnen das Ziel einer Wahlniederlage unterstellt.

Dazu zählt etwa seine vorzeitige Abreise von den D-Day-Gedenkfeiern in der Normandie am 6. Juni, was seinen Ruf als Staatsmann irreparabel beschädigte. Schon sein kurzfristiges Ausrufen der vorzeitigen Parlamentswahl am 4. Juli warf die Frage nach seinen Beratern auf. Es folgte ein kurioser Wettskandal – zahlreiche Tory-Politiker wetteten vorab auf den Wahltermin 4. Juli, wurden dann prompt geoutet und suspendiert, darunter Sunaks Wahlkampfleiter, ein echter Klassiker von selbst produzierten Tory-Skandalen.

Politischer Selbstmord als bewusste Strategie? Schon klar: Je mehr Konservative aus dem Parlament fliegen, desto mehr Rivalen in der Partei werden kaltgestellt. Aber wird am Ende irgendjemand übrigbleiben? Was für ein Ende für eine fast 200 Jahre alte Partei, die sich selbst als die älteste und erfolgreichste Regierungspartei der Welt sieht und bis zum Schluss gar nicht auf die Idee kam, dass sich daran jemals etwas ändern könnte.

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