Die süßen Träume scheinen draus gemacht

Yorgos Lanthimos kehrt nach seinem Oscar-Erfolg „Poor Things“ mit einem Anthologiefilm ins Kino zurück. Die absurden Episoden kreisen um Abhängigkeiten – und laden dazu ein, unser Begehren zu befragen

Was erwarten Emily (Emma Stone) und Andrew (Jesse Plemons) von dem Wasser im Becken vor ihnen? Foto: Walt Disney Germany

Von Arabella Wintermayr

Erst ein paar Monate sind vergangen, seit Yorgos Lanthimos’finster-feministische Variation des Frankensteinstoffs überraschenderweise mit elf Oscar-Nominierungen bedacht wurde. Der letztlich vierfach ausgezeichnete „Poor Things“ avancierte zum bislang erfolgreichsten Film des griechischen Regisseurs. Und so schien ausgerechnet einer der wichtigsten Vertreter der subversiven „Greek Weird Wave“-Strömung endgültig in Hollywood angekommen zu sein.

Wie immer, wenn Filmemacher eine solche Entwicklung erleben, wird der Erfolg in Mainstream-Gefilden von gewissen Sorgen begleitet. Darüber, ob es nun vorbei ist mit den Eigenwilligkeiten und, in Yorgos Lanthimos’Fall, der eigentlich mit Massentauglichkeit in Konflikt stehenden Sperrigkeit seiner Stoffe. „Kinds of Kindness“, mit dem er jetzt in die Kinos zurückkehrt, lässt diese Zweifel geradezu lächerlich erscheinen.

Denn womöglich hat Yorgos Lanthimos mit diesem, zumindest auf den ersten Blick äußerst absurden Anthologiefilm sogar seine bisherige Bestform als Filmemacher erreicht, dessen wohl größte Faszination die sattsam bekannten, aber seltsamerweise nur selten in Frage gestellten menschlichen Merkwürdigkeiten sind.

„Kinds of Kindness“ ist ein im besten Sinne eklektisches Werk: Die erste Zusammenarbeit mit seinem angestammten Drehbuchautor Efthimis Filippou seit „The Lobster“ besinnt sich klar auf die widerspenstigen Anfänge seiner Karriere. Die drei kuriosen Kurzgeschichten, aus denen sich der neue Film zusammensetzt, sind für sich genommen solipsistische Spektakel, in denen sich surreale Szenarien voller schräger Gewalteruptionen mit bizarrem Witz zu weltentrückt wirkenden Grotesken vereinigen.

Anstatt allerdings in die bisweilen spröde Selbstreferenzialität seiner frühen Arbeiten zu verfallen, die sich teils nur schwerlich mit dieser, der unsrigen Realität in Verbindung bringen lassen, zeichnet sich der Film als Ganzes durch eine größere Anschlussfähigkeit aus. Ähnlich wie „Poor Things“ ist so auch „Kinds of Kindness“ zugänglich für zeitgemäße Auslegungen, bleibt aber dennoch weiter als dieser davon entfernt, sich auf eine einzige stringente Erzählung oder gar einen versöhnlichen Ausgang festlegen zu lassen.

Das eigenwillige Triptychon eröffnet mit den Leiden des mittelalten Vollzeitlakaien Robert (Jesse Plemons), der von seinem ominösen Chef Raymond (Willem Dafoe) in allen Lebensbereichen kontrolliert wird. Egal, ob es um die exakten Bestandteile seines Frühstücks, das Sexualleben mit seiner, von Raymond auserwählten Frau Sarah (Hong Chau) oder die Zusammenstellung seiner Garderobe geht: Sein Vorgesetzter weiß nicht nur bestens darüber Bescheid, sondern bestimmt auch die beliebig wirkenden Regeln. Roberts eigentliches Martyrium beginnt allerdings erst dann, als er sich erstmals einem Befehl des Bosses widersetzt: Nachdem er sich weigert, mit hoher Geschwindigkeit ein anderes Fahrzeug zu rammen, in dem ein Mann mit Todessehnsucht sitzt, zieht sich Raymond aus seinem Leben zurück.

Auf sich allein gestellt scheitert Robert daran, selbst kleinste Entscheidungen selbstständig zu treffen, und setzt schließlich alles daran, wieder unter der Fuchtel seines früheren Anführers zu stehen. Zu sehr scheint sein freier Wille bereits korrumpiert, als dass er die neu gewonnene Freiheit genießen oder auch nur ertragen könnte.

Was sich hier abzeichnet, soll sich schließlich als das übergeordnete Thema von „Kinds of Kindness“ herauskristallisieren: Efthimis Filippou und Yorgos Lanthimos kreisen mit einer mindestens so beklemmenden wie erheiternden Mischung aus schwarzem Humor und spöttischer Scharfzüngigkeit um zwischenmenschliche Abhängigkeiten, die bis zu Selbstaufgabe reichen. Die mittlere Episode widmet sich diesen in amourösen Kontexten. Die Ehefrau des Polizeibeamten Daniel (Jesse Plemons) ist vor geraumer Zeit auf hoher See verschollen, seither erledigt er seine Arbeit nur noch mit mangelnder Sorgfalt und meint sogar in zufälligen Tatverdächtigen seine vermisste Angetraute zu erkennen.

Als Liz (Emma Stone) dann tatsächlich aufgespürt wird und ins gemeinsame Heim zurückkehrt, jedoch plötzlich andere Ess- und Bekleidungspräferenzen an den Tag legt, vermutet Daniel, es nun mit einer Doppelgängerin zu tun zu haben.

Liz ist Meeresbiologin, deren traumatische Erfahrungen auf einer einsamen Insel durch Schwarz-Weiß-Rückblenden in das Geschehen eingeflochten werden. Ihr scheint keine Mühe zu groß, um sich gegenüber ihrem Geliebten als wahre Liz zu beweisen. Selbst dann nicht, als er von ihr fordert, dass sie ihm einen ihrer Finger als Mahl zubereitet. Die Situation eskaliert immer weiter bis zu einem Finale, das sich beinah wie ein biblisches Szenario um Aufopferung und Auferstehung lesen lässt, in dem Liz – von der „Sünde“ eigener, vom Partner als unerwünscht empfundener Eigenschaften gereinigt – als neue, alte Version ihrer Selbst wiederkehrt.

In „Kinds of Kindness“ wird der Aberwitz der agierenden Figuren allerdings nicht nur durch die erzählerische Richtung, die die parabelhaften Vignetten nehmen, sondern auch durch die ironisierende Bildsprache der Kamera von Robbie Ryan und der nicht minder schalkhaften Schnitte von Editor Yorgos Mavropsaridis verdeutlicht.

Im abschließenden Kurzfilm etwa wird zunächst die makabre Suche der beiden Sektenmitglieder Emily (Emma Stone) und Andrew (Jesse Plemons) nach einer auserwählten jungen Frau gezeigt, die die Fähigkeit besitzen soll, Tote zum Leben zu erwecken. Erst nachdem ihre jüngste Hoffnung Anna (Hunter Schafer) im Leichenschauhaus an einem solchem Versuch scheitert und sich damit als Enttäuschung entpuppt, zeigt sich, in wessen Auftrag sie überhaupt agieren.

Surreale Szenarien voller Gewalt treffen auf einen bizarren Witz

Nach einem schnellen Schnitt ist erstmals der unbedingt jung wirken wollende Guru Omi (Willem Dafoe) zu sehen, wie er sich als sehniger Möchtegern-Gigolo in Erwartung des Besuchs seiner nächsten treu ergebenen Anhängerin (oder eines Anhängers) lächerlich-lasziv auf einem Bett räkelt, während sich Andrew und Emily vergeblich darum bemühen, dem jeweils anderen den Vortritt zu gewähren. „Kinds of Kindness“ amüsiert nicht nur köstlich darüber, wie leichtfertig wir bereit sind, unser Ureigenes aufzugeben – sondern auch für wen.

Wenngleich diese letzte Episode das schwächste Teilstück der Trias darstellt, weil der Spielraum zur skurrilen Überzeichnung in religiös-spirituellen Sphären bekanntlich gering ist, entlässt Yorgos Lanthimos’neunter Spielfilm sein Publikum als treffend schmerzliche Satire auf die verzweifelte Suche nach Bestätigung. Gerade durch die Absurdität der Szenarien, die übersteigerte Gewalt und die seltsame Sexualität wird effektvoll die Willkür, mit der Regeln bisweilen in Arbeits-, Beziehungs- oder anderen zwischenmenschlichen Kontexten aufgestellt werden, vorgeführt. Ebenso wie die Verrenkungen, die wir dennoch für die begehrte extrinsische Validierung, die Behauptung in einem sozialen Gefüge, unternehmen. Denn wie es bei den Eurythmics, deren bekanntester Song den Film eröffnet, heißt: Die süßen Träume scheinen daraus gemacht, wer bin ich, mich dem zu widersetzen?

Wenn uns das Kino nach dem Philosophen Slavoj Žižek sagt, was wir begehren sollen, kann man „Kinds of Kindness“ als energische Einladung dazu verstehen, exakt das in Frage zu stellen, was wir womöglich nur zu begehren meinen.

„Kinds of Kindness“. Regie: Yorgos Lanthimos. Mit Emma Stone, Jesse Plemons u. a. Vereinigtes Königreich/USA 2024, 165 Min.