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Jugendliche mit BehinderungenUnterschätzt und nicht mitgedacht

Politische Teilhabe von jungen Menschen ist ohnehin nicht einfach. Mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten wird es für sie noch schwieriger.

Oft fühlen sich junge Menschen mit Behinderungen allein gelassen Foto: Lukas Kapfer/th-10.de

Berlin taz | Hannah ist im Grundschulalter, als sie das erste Mal so richtig mitbestimmen will. Auf ihrem Schulweg muss sie eine große Straße kreuzen, das ist ihr zu gefährlich. Also schreibt sie einen Brief an den Vorsteher des kleinen Allgäuer Ortes, in dem sie aufwächst, und fordert eine Straßenunterführung. Diese war zwar schon vor Hannahs Brief geplant, wurde aber lange nicht verwirklicht. Nun kommt sie tatsächlich, und Hannah wird zur Eröffnung der neuen Wegführung eingeladen.

Diese Geschichte erzählt die heute 16-Jährige, wenn sie nach ihrem Wunsch nach mehr Mitsprache gefragt wird. Teilhabe von jungen Menschen ist in Deutschland ohnehin nicht immer einfach – doch Hannah gehört zu einer Gruppe, deren Belange besonders selten mitgedacht werden. Die junge Frau lebt aufgrund eines Hirntumors im Kindesalter mit einer chronischen Krankheit.

Sie habe andere Erfahrungen und Bedürfnisse als viele Gleichaltrige, erzählt Hannah. „Ich bin keine typische Jugendliche.“ Ihre Krankheit sehe man ihr nicht direkt an. „Dadurch falle ich auch irgendwie immer durchs Raster“, sagt sie. Hannahs voller Name, wie auch die der anderen jungen Menschen in diesem Text, wird zum Schutz ihrer Privatsphäre nicht genannt.

Für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten sind die Möglichkeiten zur Beteiligung oft schwierig, sei es in den mancherorts existierenden Kinder- und Jugendparlamenten oder auf anderen Wegen. Zum einen sind Räume zum Austausch oft nicht barrierearm zugänglich – baulich und kommunikativ. Zum anderen werden sie oft nicht mitgedacht, wenn es um junge Menschen geht. Dort, wo sich erwachsene Menschen mit Behinderungen organisieren, wie beispielsweise in Selbstvertretungen, sind hingegen häufig die Perspektiven der älteren Generationen dominant.

Mit Betroffenen reden statt über sie

Dass das auch anders geht, dafür gibt es Beispiele. Im vergangenen Jahr konnte Hannah gemeinsam mit anderen jungen Menschen bei einem Besuch im Bundestag die inklusionspolitischen Spre­che­r:in­nen der SPD, der Grünen und der Unionsfraktion treffen. Organisiert wurde der Austausch von der Jungen Selbsthilfe des Kindernetzwerks, dem bundesweiten Dachverband der Selbsthilfe von Familien mit Kindern und jungen Erwachsenen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten.

Ein solches Treffen könne durchaus Wirkkraft haben, glaubt Benita Eisenhardt, Referentin für Projekte und Entwicklung beim Kindernetzwerk. „Wenn junge Menschen Politikerinnen und Politikern ganz konkret erzählen können, was sie fordern, erst dann realisieren diese, welche Probleme es überhaupt gibt“, glaubt Eisenhardt. Beim Treffen im Bundestag forderten die jungen Menschen unter anderem bessere Bildungsmöglichkeiten für behinderte Kinder und Jugendliche und den Ausbau eines inklusiven Arbeitsmarktes.

Auch Hannah konnte den Po­li­ti­ke­r:in­nen von ihrer Situation erzählen. Sie besucht ein Gymnasium, setzt aber derzeit für ein Jahr aus, da die langen Schultage für sie nicht zu bewältigen sind. Sie geht etwa zwei Stunden pro Tag zum Unterricht, absolviert aber keine Prüfungen. Sie fordert für Jugendliche mit seltenen Erkrankungen oder Behinderungen Unterstützung, auch unabhängig vom Pflegegrad. „Nur weil ich selbst meine Schuhe anziehen kann, brauche ich ja trotzdem Unterstützung“, stellt sie klar. Außerdem wünscht sie sich die Möglichkeit, online zur Schule zu gehen, in ihrem eigenen Tempo. Ihr Vorschlag: „Onlineschulen in jedem Bundesland, die mit den Schulen vor Ort kooperieren, das wäre wichtig.“

„Ein grundsätzliches Problem in der Politik ist ja, dass immer über Betroffene geredet wird, egal von welcher Betroffenheit wir in dem Fall reden, ohne diese mit einzubeziehen“, sagt die 26-jährige Laura-Jane. Sie koordiniert die etwa 60-köpfige „Grüne Bande“, war früher selbst dort Mitglied. Das Jugendprojekt des Bundesverbands Kinderhospiz bringt seit 2017 junge Menschen mit einer chronischen oder lebensverkürzenden Erkrankung zusammen. Auch Geschwisterkinder und andere enge Bezugspersonen sind willkommen. Ihr Motto: „Wir haben was zu sagen“.

Junge Menschen oft unterschätzt

Diejenigen, um die es geht, einbeziehen – genau das hat das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) zuletzt versucht. Es ging um eine geplante Gesetzesänderung: Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung sollen künftig in die rechtliche Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe fallen. Bisher sind sie gesondert bei den Leistungen für Menschen mit Behinderungen geregelt. Das sei ein Problem, erklärt Benita Eisenhardt vom Kindernetzwerk. Kinder und Jugendliche mit Behinderungen gerieten bei der Gesetzgebung oft aus dem Blick. „Besonders bei Bereichen wie Gesundheit oder Pflege, die nicht originär einen Blick auf Kinder haben, gehen ihre Interessen oft verloren.“

Im Beteiligungsverfahren „Gemeinsam zum Ziel“ lud das BMFSFJ neben Stimmen aus der Forschung und der Fachöffentlichkeit auch sogenannte Expertinnen und Experten in eigener Sache ein. Selbstvertretungen anzuhören, ist bei geplanten Gesetzesänderungen nicht ungewöhnlich. Bei Themen, die Kinder und Jugendliche betreffen, werden bisher aber vor allem erwachsene Für­spre­che­r:in­nen befragt, zum Beispiel Kinderschutz- oder Elternverbände.

Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und chronischen Krankheiten hätten sich so „erstmalig direkt bei einem Gesetzgebungsverfahren einbringen“ können, sagte eine Sprecherin des BMFSFJ der taz. Wo regelmäßig Fachleute, die Wissenschaft und die Politik zu Wort kommen, da sei es nun unmittelbar um die Perspektive betroffener junger Menschen gegangen. Ihre Forderungen würden nun „in den weiteren Prozess einfließen“.

Auch das Kindernetzwerk organisierte für diesen Prozess sogenannte Thinktanks. Mit bei diesen Onlinetreffen waren mehrere Ver­tre­te­r*in­nen der Grünen Bande, darunter die 21-jährige Marie. Junge Menschen würden allgemein politisch unterschätzt, findet sie. „Das sieht man doch alleine daran, dass man erst ab 18 wählen darf.“ Es gebe zahlreiche Vorschriften, an die man sich halten müsse, aber mitreden könne man nur ganz selten.

Marie ist selbst vor Kurzem in eine Partei eingetreten und dort im Jugendverband aktiv. Um welche Partei es sich handelt, verrät sie im Gespräch nicht. Sie nutzt einen Rollstuhl und auch in der Parteiarbeit muss sie sich viele Zugänge selbst mühsam erarbeiten. Das Parteibüro war beispielsweise nicht barrierefrei, als sie im Jugendverband anfing, erzählt sie. „Da war eine Stufe davor und man musste mich monatelang reintragen.“

Viele weiterhin gänzlich von Teilhabe ausgeschlossen

Ein Parteifreund hätte dann selbst eine Rampe gebaut. „Jetzt planen sie Treffen barrierefreier, aber eben erst seitdem ich da bin“, stellt sie fest. Um mehr Bewusstsein für diese Bedarfe zu schaffen, müsste man viel mehr Menschen mit Behinderungen in die Stadträte und allgemein in die Politik holen, schlägt Marie vor.

Die 21-jährige Lilith aus München war sowohl bei den Thinktanks als auch im Bundestag dabei. Sie kommuniziert mit einer sogenannten Buchstabentafel und einer Assistenzperson und ist in mehreren jungen Selbsthilfegruppen aktiv. Das könne sie aber nur, weil ihre Familie sie unterstützt, berichtet Lilith. Viele, die wie sie unterstützt kommunizieren, aber in Heimen oder Wohngruppen leben, hätten nicht die gleichen Möglichkeiten. „Die meisten Menschen in meiner Lage verbringen ihr Leben in einer Förderstätte, ohne die Möglichkeit, sich einzubringen oder für ihre Belange zu kämpfen“, sagt die Münchnerin. Deswegen sei es wichtig, sich zu engagieren.

Der Beteiligungsprozess im Bundesfamilienministerium ist ein Schritt in die richtige Richtung. Davon sind auch die überzeugt, die daran teilgenommen haben. Lilith etwa berichtet von einem sehr wertschätzenden Umgang. „Ich wurde öfter um meine Meinung gefragt und konnte immer einen kleinen Beitrag vorbereiten, den alle gerne angehört haben“, erzählt sie.

Ähnlich sehen es die Mitglieder der Grünen Bande, fordern aber noch mehr solcher Mitsprachemöglichkeiten. Benita Eisenhardt vom Kindernetzwerk betont, es gebe schon viele gute Strukturen der Selbsthilfe. Aber die müssten auch von Anfang an miteinbezogen werden. Sie ist optimistisch, dass sich die Mühe der jungen Menschen und Familien lohnt, die sich an den Thinktanks beteiligt haben. „Man kann ja nicht die Leute zusammenbringen und ihnen eine Stimme geben, und dann hinterher sagen: Das interessiert uns jetzt doch nicht“, sagt sie.

Noch gebe es kein genaues Datum für den Referentenentwurf für das Gesetz zur inklusiven Kinder- und Jugendhilfe, heißt derweil vom Bundesfamilienministerium.

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