Die Wahrheit: Der Wahnsinnigkeit fette Beute
Willkommen bei unserer Sprachtagesschau. Oder sollten wir sagen: welcome zu unserem kleinen edgy daily talk? Deutsch ist leider nicht immer so easy.
Sprache ändert sich: „Ich erinnere das“ ist kein No-Go mehr, das macht inzwischen Sinn. „Genau“ ist das neu „äh“, auch wenn das eher cringe ist. Aber die Aufschreie selbsternannter Sprachwächter, weil „Nase“ nicht mehr „Gesichtserker“ heißt, „Mansplaning“ nicht mehr „Erklärbär“ und „geil“ jetzt „mega“ ist, sind nicht minder weird.
Doch wenn ich einem Trend des Sprachwandels Einhalt gebieten könnte, dann dem der langen Wörter: „Gareth Southgate ist sehr vorsichtig bei seiner Aufstellung“, sagte ein Sportreporter kürzlich: „Viele in England werfen ihm diese Vorsichtigkeit vor.“ – Autsch!
Es ist ein Elend mit der Substantivierung! Oder wie der Reporter wohl sagen würde: eine Elendigkeit. Im Deutschen können wir nahezu aus jedem Substantiv ein Adjektiv machen, einfach eine Silbe dranhängen, zack, fertig ist das Adjektiv: Vorsicht – vorsichtig. Und wir können aus fast jedem Adjektiv ein Substantiv machen: Bunt – Buntheit. Das gilt aber auch für Adjektive, die man eben zuvor noch aus Substantiven abgeleitet hat. Mal geht das gut: Sinn – sinnlich – Sinnlichkeit. (Jane Austen freut das.) Oft aber auch nicht: Vorsicht – vorsichtig – Vorsichtigkeit. Theoretisch ließe sich das ewig so fortsetzen: vorsichtigkeitlich – Vorsichtigkeitlichheit – Vorsichtigkeitlichheitisch … bis es keinen Sinn mehr macht (oder ergibt). Irr-, Scharf-, Wahn- und Unsinnigkeit sind des Wahnsinns fette Beutigkeit. „Unsinnigkeit“ bezeichnet laut Duden „etwas Unsinniges“, vulgo: „Unsinn“ oder das „Unsinnigsein“. Richtig, jede -igkeit hebt des So-Sein etwas hervor. Aber wenn etwas unsinnig ist, was ist es dann anderes als Unsinn? Unsinnigkeit ist Unsinn. Und das stimmt immer. „Donald Trump pries in Detroit seine Scharfsinnigkeit an“ (n-tv). „Donald Trump pries in Detroit seinen Scharfsinn an.“ Finde den Unterschied! Es gibt keinen: Sowohl Scharfsinnigkeit als auch Scharfsinn sind Unsinn bei Donald Trump.
„Da hätte ich mir mehr Sorgfältigkeit gewünscht“, sagte eine Schülerin auf dem Gehweg zu ihrer Begleiterin. „Sorgfalt“, wimmerte ich. Aber der Duden hat längst kapituliert und „Sorgfältigkeit“ aufgenommen, als –Achtung!: „Synonym für ‚Sorgfalt‘ “. Da fällt mir nichts mehr zu ein.
Mehr
Von „Einfältigkeit“ liest man auch oft. Überhaupt scheinen es die „-falten“ zu sein, die in die -igkeit führen: Sorgfalt, Einfalt, Vielfalt. In progressiven Kontexten gerne „Vielfältigkeit“, weil das ja nach noch mehr Vielfalt klingt. Es ist aber einfach nur mehr Wort, mehr Buchstabigkeit.
„Wir müssen wieder Demütigkeit lernen.“ Nein! Lernt Demut, und vorher bitte sprechen! „Wir sollten hier achtsamkeitlich agieren.“ Nein! Achtsam! „Die Richterin ließ Gnädigkeit walten.“ Nein! Gnade! „Du begibst dich in Abhängigkeit!“ Nein! Du begibst dich in den Abhang! „Müßigkeit ist aller Laster Anfang.“ Nein! Mus ist aller Laster Anfang! – Es geht, man muss nur wollen! Ich möchte nicht, dass Vorsichtigkeit dereinst die Mütterlichkeit der Porzellankistigkeit ist. Das wäre mir dann doch zu cringe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm