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Marokkanisches Roadmovie „Déserts“Mehr Traum als Wirklichkeit

Faouzi Bensaïdis poetisches Roadmovie „Déserts“, gedreht im Süden Marokkos, beginnt als Sozialsatire. Es endet als melodramatische Phantasmagorie.

Mehdi (Abdelhadi Taleb) und Hamid (Fehd Benchemsi) umrahmt von ihren Geldeintreiberkollegen in „Déserts“ Foto: Camino

Als die Geldeintreiber eines privaten Inkassounternehmens zu einem kleinen Ladenbesitzer kommen, um seinen Besitz zu pfänden, lassen sie sich zunächst aus dem Bestand der noch in den Regalen vorhandenen Lebensmittel verköstigen. Nach der Mahlzeit fragt einer von ihnen den Mann, ob er etwas habe, woran man sich die Hände abwischen könne. „Nimm einfach eine von den Zeitungen da“, deutet der Krämer gleichgültig auf den Verkaufsständer draußen vor dem Laden, „die kauft sowieso niemand.“

In der nächsten Einstellung sehen wir, dass nicht nur die Zeitungen, sondern auch er und sein Laden übriggeblieben sind von einer längst vergangenen Welt; denn die bauliche Hülle des Geschäfts ist das noch stehengebliebene Rumpfstück eines größeren Gebäudes, das bereits abgerissen wurde. Und ringsherum nichts als Wüste.

Die Wüste an sich ist, nicht zuletzt dank ihrer vielen visuellen Qualitäten, eine hervorragende Filmmetapher. Wenn jemand seinem Film auch noch den Titel „Déserts“ gibt, markiert diese Pluralform deutlich die semantische Mehrfachfunktion der Szenerie. Regisseur Faouzi Bensaïdi (der den Ladeninhaber in der oben beschriebenen Szene selbst spielt) zeigt in „Déserts“ eine unendlich scheinende Landschaft von grandioser Kargheit, ohne je in den Bildern zu schwelgen. Sie ist halt da, die Wüste, und in ihr sehen wir Menschlein in ihrem, von ferne betrachtet, oft rätselhaft scheinenden Tun.

Der Film wurde zum größten Teil in der Saharaperipherie im Süden Marokkos gedreht, einer Region, in der menschliche Behausungen, aus Lehm gebaut, oft so wirken, als seien sie bereit, jeden Augenblick wieder zu Staub zu zerkrümeln. In dieser Gegend versuchen Hamid (Fehd Benchemsi) und Mehdi (Abdelhadi Taleb), den eigentlich hoffnungslosen Auftrag zu erfüllen, von den Ärmsten der Armen Kreditschulden einzutreiben.

Der Film

„Déserts“. Regie: Faouzi Bensaïdi. Mit Fehd Benchemsi, Abdelhadi Taleb u. a. Frankreich/Deutschland/Marokko/Belgien/Katar 2023, 125 Min.

Mit einem klapprigen alten Auto durchqueren sie staubige Ebenen, klettern in den Ruinen halb verlassener Dörfer umher und pfänden, wenn sie säumige Schuldner gefunden haben, deren letzte Habe – hier einen Teppich, dort eine Ziege, einmal auch einen Kleintransporter.

Skurrile Momente und leise Melodramatik

Doch obwohl sie sich größte Mühe geben, ihren Job so hartherzig wie möglich auszuführen, kommen sie nie auf einen grünen Zweig und werden von der Chefin auch noch öffentlich abgestraft. Es ist ein rechter Scheißjob, der sich aber wunderbar als Sujet eines satirisch grundierten Roadmovies eignet.

In die episodische Struktur der Inkassoerlebnisse sind Szenen aus dem Privatleben der beiden Geldeintreiber eingefädelt. Während der eine verlobt ist und sich in der angespannten Situation befindet, die Schwiegereltern in spe beeindrucken zu müssen, lebt der andere, sozusagen ein paar Level weiter, im Dauerstreit mit seiner Frau über seine kleine Tochter aus erster Ehe. Für skurrile Momente sorgt das eine, für leise Melodramatik das andere.

Die elliptische Erzählweise, die für den Film insgesamt charakteristisch ist, erlaubt es, Komik und Tragik dicht nebeneinanderzustellen, und lässt gleichzeitig viel Raum für Imagination – für die poetische Freiheit der Rezipientin, eigene Bilder und Geschichten im Kopf zu ergänzen.

Und irgendwann gleitet der Film in eine narrative Kurve völlig anderer Art hinüber und wird zu einer Art Western: Denn dort unten in den Bergen, wo noch archaische soziale Strukturen herrschen, lebt ein Geldeintreiber der ganz anderen Art, ein lokaler Gewaltherrscher, vor dem alle zittern und der einst seinem Bruder die Geliebte ausgespannt hat, indem er den Widersacher durch eine Intrige ins Gefängnis brachte.

Surreal schöne Szenen

Auf einmal ist es diese tragische Liebesgeschichte, die im Fokus des Geschehens steht; und es ist, als ob zugleich die gesamte Filmsprache das Genre wechselt: Während zuvor meist in statischen Totalaufnahmen kleine Menschen in mittlerer Entfernung durchs Bild wuselten, nähert die Kamera sich nun empathisch den Personen an und wagt sogar ein paar Großaufnahmen.

Im Off erklingt ein Dialog der Liebenden, die im Bild einander weder ansehen noch berühren. In surreal schönen Szenen, gedreht auf einem felsigen Bergplateau, gleitet der Film in eine andere visuelle Welt hinüber, die mehr Traum als Wirklichkeit zu sein scheint.

Und weil es so erstaunlich ist, dass die beiden grundverschiedenen Handlungsebenen, die skurrile Sozialsatire und das Westerndrama, am Ende doch wieder zusammenkommen, ist damit schließlich auch jede sichere Unterscheidung zwischen filmischer Realität und Phantasmagorie aufgehoben. Aber wer weiß schon, was in der Wüste wirklich ist und was man sich nur einbildet.

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