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Eigentorflut bei der EMDie tragischen Helden

Sechs Eigentore zählt die Statistik schon bei dieser EM. Fast jedes zehnte Tor geht ins eigene Netz. Zuletzt kam dies im Schnitt immer häufiger vor.

Eigentore passieren bei dieser EM ungewöhnlich oft, hier beim Spiel der Türkei gegen Portugal Foto: Michael Probst/AP

Von einem „Slapstick“-Tor schreibt die Nachrichtenagentur dpa, die türkische Zeitung Hürriyet findet den Treffer „unglücklich“. Der türkische Verteidiger Samet Akaydin hatte im Spiel gegen Portugal (0:3) in der ersten Halbzeit ein blitzsauberes Eigentor geschossen, nahezu unbedrängt passte er am Torhüter vorbei in den leeren Kasten. Akaydin schrieb damit einen Trend bei dieser Europameisterschaft fort: Sechs Eigentore fielen in den ersten 24 Partien. Wenn das so weitergeht, dann könnten am Ende des Turniers, also nach allen 51 EM-Spielen, 13 Eigentore zu Buche stehen: Das wäre ein neuer Rekord bei Großevents. Zwölf Eigentore wurden bei der Weltmeisterschaft in Russland im Jahr 2018 erzielt, elf bei der vergangenen EM. Nur bei der WM in Katar waren die Defensiven auf Zack: Nur zwei Eigentore wurden gezählt.

Generell gilt: Da das Spiel schneller und physischer geworden ist, die Flanken mit Schmackes in den Strafraum zischen, laufen die Verteidiger auch immer wieder Gefahr, ihre Abwehraktionen zu verkorksen und den Ball ins eigene Netz zu bugsieren. Heuer haben das Antonio Rüdiger geschafft, der Österreicher Maximilian Wöber, Robin Hranac (Tschechien), Klaus Gjasula (Albanien) und der Italiener Riccardo Calafiori.

Und dann noch: Im Spiel zwischen Schottland und der Schweiz (1:1) lenkt Fabian Schär einen Schuss von Scott McTominay ins eigene Tor ab. Der Kontinentalverband Uefa schreibt den Treffer in der zweiten Halbzeit nachträglich McTominay zu. Neben dem selbstschädigenden Verhalten fällt bei dieser EM eine weitere Tendenz auf: Weitschusstore. In den ersten 18 Spielen wurden nach der offiziellen Statistik der Uefa 14 von 47 Treffern aus der Distanz erzielt.

Eine mögliche Erklärung: Weil das Hineinkombinieren in den Strafraum immer komplizierter und aufwändiger wird, zieht man aus 20 Metern halt mal ab. Das ist ein probates Mittel, weil es mittlerweile so viele Mittelfeldspieler mit überragender Schusstechnik gibt, etwa das türkische Supertalent Arda Güler oder der Schweizer Altmeister Xherdan Shaqiri. Doch zurück zu den Spielern, die Selbsttore oder Eigengoals erzielen, wie man in der Schweiz und Österreich auch zu sagen pflegt.

9,8 Prozent Eigentore

Jedes zehnte Tor bei der Euro ist ein Eigentor: 9,8 Prozent. Dieser Wert ist auch höher als bei der EM 2021 (7,7 Prozent), im Durchschnitt bewegt sich der Anteil an Eigentoren an Fußballgroßevents bei drei, vier Prozent, wobei ein Anstieg der Werte in den vergangenen Jahren erkennbar ist. Fiel bei der WM 1994 nur alle 52 Tore ein Eigentor, so ist das jetzt erheblich öfter der Fall, was bestimmt auch an der offensiven Ausrichtung der meisten EM-Teilnehmer liegt: Es gibt kein Vertun, kein „Abtasten und Geplänkel“, nein, der Erfolg wird sehr direkt gesucht.

Und so handeln die EM-Geschichten zum Spiel eben oft auch vom tragischen Helden, der im Versuch, das Schlimmste zu verhindern, einen Bock schießt. In der Bundesliga ist Manfred Kaltz mit seinen 6 Karriere-Eigentoren eine kleine Berühmtheit, und herausragend war auch die Partie zwischen AS Adema und SOE Antananarivo in Madagaskars erster Liga im Jahr 2002. Das Match endete 149:0. Alle Treffer waren Eigentore. Aus Protest gegen eine Schiedsrichterentscheidung hatte sich Antananarivo in einen Trotz-Exzess hineingesteigert. Kurios auch die Partie zwischen Barbados und Granada im Rahmen des Karibik-Cups im Jahr 1994: Zeitweise lag es wegen einer bizarren Golden-Goal-Regel im Interesse beider Mannschaften, ein Eigentor zu erzielen. Außerdem musste eine Mannschaft in einer Phase des Spiels beide Tore verteidigen, um sowohl Tore als auch Eigentore des Gegners zu verhindern. Der Guardian nannte das Spiel „eines der seltsamsten Fußballspiele aller Zeiten“.

Die Eigentorschützen mussten früher viel Häme und Spott ertragen, heute eher die Zusammenschnitte ihrer Fehler auf Youtube. Die Kompilationen werden massenhaft geklickt, denn auch heute gilt anscheinend: Schadenfreude ist die schönste Freude.

Eigentorschützen sind also große Unterhaltungskünstler, deren Fauxpas mit der Zeit immer wertvoller wird. Diese Dimension erschließt sich dem armen Samet Akaydin aber wohl erst später.

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2 Kommentare

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  • Leider kamen Fernschüsse aus der Mode, als jemand herausgefunden hat, dass Torschüsse von innerhalb des Strafraums höhere Trefferwahrscheinlichkeit haben, als von außerhalb des Strafraums. Es wäre auch komisch, wenn nicht - man ist einfach näher dran. Seitdem wird versucht, den Ball fast ins Tor zu tragen.

    Was die mathematische Analphabetenschaft verpeilt hat - man muss ja erstmal in aussichtsreiche Schussposition kommen: und wenn die Wahrscheinlichkeit, in den Strafraum zu kommen, zu niedrig wird, hilft's nix mehr:



    Denn die Gesamtwahrscheinlichkeit für ein Tor ergibt sich aus der Multiplikation der Wahrscheinlichkeit, in günstige Position zu kommen, mit der Wahrscheinlichkeit, auch zu treffen.

    • @R R:

      apropos mathematischer Analphabetismus

      "Denn die Gesamtwahrscheinlichkeit für ein Tor ergibt sich aus der Multiplikation der Wahrscheinlichkeit, in günstige Position zu kommen, mit der Wahrscheinlichkeit, auch zu treffen."

      Die Aussage würde nur gelten, falls die Zufallsvariablen X="in Position kommen" und Y="aus Position treffen" stochastisch unabhängig wären. Oder anders ausgedrückt, falls die Trefferwahrscheinlichkeit unabhängig vom Pfad (i.e. Spielzug) wäre.



      Das ist sie natürlich nicht: Ein Sololauf über den ganzen Platz erfolgreich abzuschließen ist, aufgrund nachlassender Kräfte, schwieriger als ein geschicktes Anspiel zu verwerten.