Digitalisierung deutscher Kommunen: Von wegen barrierefreier Staat

Menschen mit Beeinträchtigungen haben die Webseiten der etwa 11.000 deutschen Kommunen auf Barrieren geprüft. Schön ist das Ergebnis nicht.

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Menschen sind nicht behindert, sie werden behindert – auch im Netz Illustration: Paulina Eichhorn

1. Was ist der „Atlas der digitalen Barrierefreiheit“?

Wenn es um Barrierefreiheit geht, denken viele von uns zuerst an Rollstuhlrampen, Fahrstühle oder Toiletten für Menschen mit Behinderung – also den Zugang und die Nutzbarkeit von Gebäuden und öffentlichen Räumen. Das ist ohne Frage ein wichtiges Thema, und in deutschen Städten und Gemeinden ist in der Hinsicht noch eine Menge zu tun. Aber es gibt einen Bereich, in dem Barrierefreiheit ungleich einfacher, ohne Intervention des Denkmalschutzes und ohne große Kostenblöcke umsetzbar ist: das Internet.

Dass staatliche Internetangebote barrierefrei zugänglich sein müssen, ist rechtlich festgelegt. Es ergibt sich aus den Behindertengleichstellungsgesetzen des Bundes und der Länder. Wie weit die Internetangebote der deutschen Kommunen allerdings von der Erfüllung dieser Pflicht entfernt sind, zeigt jetzt ein Projekt aus der Zivilgesellschaft.

Ab 27. Juni soll der „Atlas der digitalen Barrierefreiheit der Kommunen in Deutschland“ veröffentlicht werden. Für jede einzelne Kommune Deutschlands ist dort abrufbar, wie zugänglich deren Internetangebot ist. Dafür hat eine Gruppe von Menschen mit Beeinträchtigungen zunächst Kriterien entwickelt und dann in monatelanger Fleißarbeit geprüft. Impuls und technische Unterstützung kamen vom gemeinnützigen Berliner Verein Inclusion Technology Lab.

„Häufig wird digitale Barrierefreiheit nur nach technischen Kriterien getestet, mit dem echten Erleben hat das nichts zu tun“, sagt Vorstand Raimund Schmolze-Krahn. Die Tes­te­r*in­nen sind Beschäftigte der DasDies GmbH, einem Unternehmen zur Arbeitsintegration der Arbeiterwohlfahrt im westfälischen Unna. Geldgeberin war die Aktion Mensch.

2. Was sind die Kriterien für digitale Barrierefreiheit?

Das Projekt begann schon mit einer mühsamen Aufgabe, denn ein Gesamtverzeichnis der knapp 11.000 deutschen Kommunen gibt es laut Schmolze-Krahn nicht. „Wir wollten keine Stichprobe, sondern jede einzelne Kommune anschauen – damit sich niemand rausreden kann.“

Geprüft wurden die Startseiten der Internetauftritte. „Wenn ich keinen Zugang zu den Schlüsseldienstleistungen der Kommunen habe, dann ist die Tür von Anfang an zu.“ Manchmal würden Kommunen darauf verweisen, dass Unterseiten zu behinderungsspezifischen Themen barriereärmer sein als die Startseite. „Aber da muss man ja erst einmal hinkommen“, sagt Schmolze-Krahn.

Schlanke 5 Prüfkriterien haben die Tes­te­r*in­nen in einem Workshop entwickelt Sie bilden längst nicht alle Dimensionen von digitaler Barrierefreiheit ab, dafür scheinen sie aber ziemlich leicht umsetzbar: Lässt sich die Schriftgröße ändern? Gibt es eine Vorlesefunktion? Ein Angebot in leichter Sprache? Wird das Thema Barrierefreiheit auf der Seite erwähnt? Kann man in wenigen Minuten erfahren, wo man einen Termin zur Verlängerung seines Personalausweises vereinbaren kann?

3. Warum ist ein Test mit echten Menschen wichtig?

Zwar gibt es schon seit 2002 die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung BITV, die einen ganzen Prüfkatalog technischer Kriterien zur Barrierefreiheit von Internetseiten enthält. Auch die wurden im Projekt zum Vergleich mit geprüft. „Aber von den Erfahrungen der Menschen weichen diese Ergebnisse zum Teil deutlich ab“, sagt Schmolze-Krahn.

So habe zwar inzwischen jeder Browser Werkzeuge zur Veränderung der Schriftgröße oder zum Vorlesen von Texten. Aber wie zugänglich sind diese für Menschen, die auf Übersichtlichkeit und einen leichten Einstieg angewiesen sind? Daher war die grundlegende Idee des Projektes: Menschen, die sich mit Ausgrenzung und Barrieren aus eigenem Erleben auskennen, testen selbst die fast 11.000 Internetseiten. Langweilig sei das nie gewesen, sagt Miriam Langhoff, eine der Tes­te­r*in­nen aus Unna. „Wir konnten aktiv werden für mehr Inklusion, wir konnten etwas tun.“

4. Warum ist das Ergebnis so unglaublich schlecht?

Für jedes der 5 Prüfkriterien wurde 1 Punkt vergeben – maximal also 5 Punkte. Das Resultat im Bundesdurchschnitt: nicht einmal 2 Punkte. Man habe mit schlechten Ergebnissen gerechnet, sagt Miriam Langhoff. „Aber das war doch sehr ernüchternd.“ Das ganze Team sei überrascht gewesen.

„Unglaublich, wie schlecht die Barrierefreiheit gerade hier ist, wo sie sich so viel leichter und kostengünstiger umsetzen ließe“, sagt auch Schmolze-Krahn. 7 Prozent aller Kommunen haben die Prü­fe­r*in­nen gar keinen Punkt gegeben. Nur jede zehnte hat auf der Startseite eine Vorlesefunktion oder einen Hinweis auf leichte Sprache eingebaut. Die Schriftgröße ließ sich bei einem Drittel der Seiten unkompliziert ändern, die Hälfte enthielt einen Hinweis auf das Thema Barrierefreiheit. Bei über 80 Prozent war binnen 3 Minuten zu erfahren, wo man einen Termin zur Personalausweisverlängerung vereinbaren kann.

5. Welche Kommunen taugen als Vorbilder?

Aber es gibt auch Kommunen, die volle 5 Punkte erreicht habe – Essen, Bielefeld, Kiel und Lübeck zum Beispiel. „Das zeigt doch, es kann funktionieren“, sagt Testerin Miriam Langhoff. Leicht zugängliche digitale Angebote, die zum Beispiel mobilitätseingeschränkten Menschen Wege ersparen: „In der digitalen Barrierefreiheit liegt eine große Chance, aber sie muss auch ergriffen werden“, sagt Langhoff.

6. Was muss jetzt passieren?

Schmolze-Krahn wünscht sich, dass die digitale Barrierefreiheit schon in der Konzeptionsphase von Internetseiten mitgedacht wird. „Digitale Barrierefreiheit ist nichts, was am Ende mal eben noch irgendein Techniker erledigt.“ Nächste Woche sollen die detaillierten Ergebnisse des Projekts und der Atlas vorgestellt werden. Angeschrieben wurden alle Bürgermeister*innen, die zuständigen Mi­nis­te­r*in­nen und auch der Bundeskanzler.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

„Wir wollen das Potenzial der Digitalisierung für die Entfaltungsmöglichkeiten der Menschen, für Wohlstand, Freiheit, soziale Teilhabe und Nachhaltigkeit nutzen“, steht im Koalitionsvertrag der Ampelregierung. Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz soll ab 2025 erstmals auch private Unternehmen zu digitaler Barrierefreiheit verpflichten. „Aber mit elementaren Angeboten wie den Internetauftritten der Kommunen fängt es an“, sagt Miriam Langhoff.

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