Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine: Charkiw braucht Investoren
Charkiw, größte Metropole der Ostukraine, ist von russischen Angriffen schwer getroffen. Bürgermeister Ihor Terechow will raschen Wiederaufbau.
taz: Herr Terechow, Sie nehmen diese Woche an der Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine in Berlin teil. Kommen Sie mit bestimmten Wünschen oder Vorschlägen für Ihre Stadt Charkiw?
Der 57-Jährige war von 2010 bis 2021 Vizebürgermeister und wurde danach Bürgermeister von Charkiw.
Ihor Terechow: Energie. Die Hauptaufgabe der Berliner Konferenz besteht darin, die Stadt auf den Winter vorzubereiten. Dazu werden wir auch eine Finanzierungsvereinbarung mit der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) über 25 Millionen Euro für Charkiw unterzeichnen. Das zweite Ziel sind Charkiws Perspektiven. Wir legen Investitionspläne und Vorschläge vor, die dann begutachtet werden. Wir verstehen, dass Investoren im Krieg sehr vorsichtig sein werden. Aber wenn wir erst nach dem Krieg mit der Arbeit beginnen und erheben, welche Mittel benötigt werden, wie viel Geld der Investor später erhält und wie lang die Bauzeit sein wird, dann werden wir allein auf die Genehmigung zwei bis drei Jahre warten.
Wie ist die Lage der kommunalen Versorgungsunternehmen nach einem Monat der russischen Offensive in der Region Charkiw?
Allein im Mai gab es 76 Angriffe auf Charkiw, fast dreimal mehr als im April. Sie waren sehr heftig und haben großen Schaden angerichtet – für die Menschen, die Produktion und die kommunalen Versorgungsnetze. Die Energie- und Wärmeerzeugung wurde vollständig zerstört. Wir werden von anderen Städten versorgt und können daher jederzeit von dieser Versorgung getrennt werden. Für die Erzeugung von Elektrizität brauchen wir unsere eigenen Anlagen.
Wie bereitet sich die Stadt auf den Winter vor?
Dezentralisierung der Energie. Das ist der einzige Ausweg. Ich glaube nicht daran, dass wir das Wärmekraftwerk heute instandsetzen oder einfach nur retten können. Es wird weitere Angriffe geben, und alles wird erneut zerstört. Daher braucht es lokale Anlagen zur Strom- und Wärmeerzeugung.
Keine Wärme, kein Licht – wird die Anzahl der Geflüchteten aus Charkiw steigen?
Zweifellos! Und da es zu einer solchen Lage in der gesamten Ukraine kommen könnte, werden die Menschen Zuflucht in Europa suchen. Das erhöht natürlich auch die Zahl von Ukrainer*innen, die nach Deutschland kommen. Uns ist klar, dass dies eine Herausforderung ist.
Internationale Hilfe: Neben Waffen braucht die Ukraine Wirtschaftshilfe, eine funktionierende Infrastruktur und Energieversorgung. Am Dienstag und Mittwoch kommen rund 2.000 Vertreter:innen aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft zusammen, um über den Wiederaufbau der Ukraine zu sprechen. Entwicklungsministerium und Auswärtiges Amt haben die Konferenz organisiert. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird in Berlin erwartet.
Die Kriterien: Laut Weltbank kostet der Wiederbau rund 450 Milliarden Euro. Das Geld soll die Weltgemeinschaft bezahlen, aber auch eingefrorene russische Vermögen sollen genutzt werden können. Die Ukraine muss gewährleisten, gegen Korruption vorzugehen. Investitionen sind für erneuerbare Energien gedacht. (tat)
Aber sehr viele bleiben auch, trotz der Gefahr.
In jeder Stadt ist es gefährlich. Aber die Menschen lieben Charkiw. Viele, die weggegangen sind, sind wieder zurückgekehrt. Ihnen ist klar geworden, dass sie sich hier immer noch wohler als in anderen Städten fühlen und ihnen alles vertrauter ist. Das ist das Zuhause.
Wie genau soll Charkiw wieder aufgebaut werden? Ist das während des Kriegs überhaupt möglich?
Wir müssen jetzt die Häuser im Stadtteil Nord-Saltiwka wieder aufbauen, in einem fast schon legendären Teil der Stadt. Der Wiederaufbau dort gibt den Menschen Vertrauen in die Zukunft – das ist sehr wichtig. Für andere Stadtteile stellen wir eigene Mittel bereit, aber für Nord-Saltiwka brauchen wir Hilfe. Die Stadt kann die finanzielle Belastung einfach nicht allein tragen.
Wie viele Schäden hat Charkiw seit dem Beginn des Kriegs zu verzeichnen, kann die Stadt aus eigener Kraft wieder auf die Beine kommen?
In Charkiw belaufen sich die Schäden auf 10 Milliarden Euro. Wenn wir das gesamte Budget von Charkiw aufwenden würden, was unmöglich ist, würde der Wiederaufbau 17 Jahre dauern. Wenn wir 20 Prozent des Budgets bereitstellten, wären das 50 Jahre. Das sind unrealistische Zeiträume. Deshalb brauchen wir private Investoren.
Wie sehen Sie Charkiw in zehn Jahren?
Eine coole, eine junge Stadt. Das ist am wichtigsten. Ich möchte wirklich, dass wir das Projekt eines Wissenschaftsparks in Charkiw wieder aus der Schublade holen. Wenn dies gelingt, betrachte ich meine Mission als erfüllt.
Sie wurden Bürgermeister in einer sehr schwierigen Zeit. Bereuen Sie das?
Als ich anfing, waren die Zeiten noch einfach (lacht). Einer oder eine musste das ja machen. Aber bereuen? Auf keinen Fall.
Aus dem Russischen von Barbara Oertel
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