Jenny Erpenbeck und die USA: Ein ganz besonderes Vergnügen

Unerhörte Geschichten, dies- und jenseits des Atlantiks: Die mit dem Booker Preis bedachte Jenny Erpenbeck ist im englischsprachigen Raum überaus beliebt.

Jenny Erpenbeck hält eine goldene Trophäe

Jenny Erpenbeck bei der Booker-Preis-Verleihung Foto: Alberto Pezzali/ap

NEW YORK taz | Die literarische Welt der USA ist Jenny Erpenbeck schon seit Jahren überaus zugetan. Bereits 2017 ließ der Kritiker des New Yorker beiläufig die ­Bemerkung fallen, dass sie wohl sicher bald den Nobelpreis erhalten werde. Andere folgten ihm in dieser Einschätzung, und so gab es auch nur wenige ­Stimmen, die hierzulande missgünstig waren, als sie in dieser Woche den Booker Preis erhielt.

Die Ehrung schien lediglich zu bestätigen, was Dwight Garner in seiner Kritik zu „Kairos“ in der New York Times ge­schrieben hatte, dass Erpenbeck nämlich „eine der kraftvollsten und raffiniertesten Erzählerinnen ist, die wir haben“.

Die wenigen Unkenrufe klangen angesichts dieser fast einstimmigen amerikanischen Bewunderung für Erpenbeck dagegen kleinlich. Der lapidare Spruch des Literaturprofessors Samuel Spinner auf der früher Twitter genannten Plattform etwa, der lautete:

„Erpenbeck ist das Erbe einer Gattung angetreten, die durch Bernhard Schlinks ‚Der Vorleser‘ begründet wurde und die man auch als ‚Die Reifeprüfung mit Mrs. Robinson als Nazi‘ bezeichnen könnte. Die Tatsache, dass solche Bücher so effektiv die Kritiker anlocken, ist eine große bürgerliche Tragödie.“

Verlegt von kleinem „Boutique“-Verlag

Das war zweifellos giftig, doch dahinter steckte eine legitime Frage. Jenny Erpenbeck taucht noch immer nicht auf Bestsellerlisten in den USA oder in England auf. „Kairos“ wurde, anders als in England und den USA, in Deutschland für keinen der wichtigen Preise berücksichtigt. Sie wird in den USA von keinem der „Big Five“ verlegt, sondern von New Directions, einem noch immer privat geführten „Boutique“-Verlag. Doch die literarische Elite des Landes ­überschlägt sich vor Enthusiasmus.

Was also finden die Ost- und die Westküsten-Intellektuellen an der Deutschen? Spinners boshafter Ausspruch deutet an, dass hier ein gewisser Voyeurismus am Werk sei, der sich an der Schwere der deutschen Erfahrung ergötzt, ein leicht perverses Flirten mit den Abgründen all dessen, was leicht als „deutsch“ zu erkennen ist:

Sebalds Schreiben über die totale Zerstörung etwa, die Melancholie von Wim Wenders oder Anselm Kiefer, das grüblerische Malen von Gerhard Richter oder die mitunter düsteren und verstörenden Fotos von Wolfgang Tillmans, die am New Yorker MoMa vor zwei Jahren ein großer Hit waren.

Ist Erpenbeck also in den USA eine hippe literarische Mode, so wie es in den 80er Jahren in den New Yorker Clubs schick war, Bundeswehrunterhemden zu tragen? Sie selbst meint das natürlich nicht. Auf ihrer jüngsten Lesereise durch die USA glaubte sie vielmehr eine strukturelle politische Parallele zwischen den USA und Deutschland beobachten zu können, die ein Stück weit das Interesse an ihrem Werk erklärt.

Ein Vorbild für die Stimmenlosen?

Es gibt hier wie dort die unerhörten Geschichten, die zu Zorn führen, in Deutschland das Erleben der DDR und der neuen Länder der Nachwendezeit, in den USA die Leben der von der Globalisierung und den Küs­ten­eli­ten Vergessenen und Abgehängten, die sich nun mit irrationalen politischen Willensbekundungen sowie mit Gewaltbereitschaft lautstark zu Wort melden. Erpenbeck ist eine Stimme des Ostens, die nicht selbstmitleidig ist und deshalb für die USA und die Stimmenlosen hier möglicherweise ein Vorbild.

Eine wirkliche Literatur der „deplorables“, wie Hillary Clinton einmal unsensiblerweise die potenziellen Trump-Wähler genannt hat, gibt es jedenfalls in den USA bislang bestenfalls im Ansatz. Da ist der „Hillbilly Noir“ von Daniel Woodrell, da gibt es JD Vance sowie journalistische Ansätze wie die von George Packer oder Evan Osnos. Aber es gibt keinen Sound, in dem diese Geschichten erzählt werden, so wie etwa die Südstaatenliteratur über die Jahrzehnte einen eigenen Sound entwickelt hat.

Natürlich sind die Parallelen zwischen den Unerhörten der USA und denen, deren Lebenswelt im Osten Deutschlands nach 1989 als ungültig abgestempelt wurde, begrenzt. Aber die Tatsache, dass Erpenbeck einen Ton für unerzählte Geschichten gefunden hat, vermag zumindest zum Teil ihre Attraktivität hier zu erklären.

Aber vielleicht beruht Erpenbecks Erfolg bei den amerikanischen Literati auch nur darauf, dass sie, wie ihre Übersetzerin Susan Bernofsky es ausdrückte, einfach eine verdammt gute Erzählerin ist. Sie verwebt das Private und das Historische auf eine Art, wie man es von großer angelsächsischer Literatur gewohnt ist und erwartet.

David Mendelsohn schwärmte in der New York Review of Books davon, wie sie die „gewichtigen Themen von Zeit, Geschichte, Macht, Gewalt und Erinnerung“ mit „kühler Präzision und beinahe verstörender Kargheit“ behandelt. Es ist eine besondere Kunstfertigkeit. Und die bereitet den lesenden Kreisen von New York und Los Angeles ein ganz besonderes Vergnügen.

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