Parlaments- und Europawahl in Bulgarien: Sofia in Brüssel

Zeitgleich wird in Bulgarien für die EU und die neue Nationalversammlung abgestimmt. Dabei spielen europäische Themen eine untergeordnete Rolle

Foto: Georgi Paleykov/NurPhoto/imago

Die Bul­ga­r*in­nen hätten allen Grund, sich am kommenden Wochenende den Gang an die Urne zu sparen. Sie sind aufgefordert, nicht nur über ihre Ver­tre­te­r*in­nen im nächsten EU-Parlament zu entscheiden, sondern auch über die Zusammensetzung ihrer Volksvertretung – und das zum sechsten (!) Mal innerhalb von drei Jahren. Eine gewisse Wahlmüdigkeit wäre da nur allzu verständlich. Aber so weit ist es ganz offensichtlich noch nicht: Zwischen 45 und 48 Prozent der Wäh­le­r*in­nen immerhin wollen von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen. Das ist vielleicht eine gute Nachricht.

Eine weniger gute ist, dass es in Bulgarien, einem immer noch weithin wenig beachteten Land an der Peripherie Europas, das seit 2007 Mitglied der EU ist, wohl nicht zu dem erhofften Befreiungsschlag kommen wird, sprich: Es wird keine stabilen Mehrheitsverhältnisse geben.

Was geht da nur vor bei den Bulgar*innen, die Otto von Bismarck als „Preußen des Balkans“ (gegendert wurde damals noch nicht) bezeichnet hatte?

Im Sommer 2020 schaffte es Bulgarien in die internationalen Schlagzeilen. Wochenlang gingen Zehntausende gegen Korruption, Oligarchentum und einen „mafiösen Staat“ auf die Straße. Adressat der Massenproteste war vor allem Bojko Borissow von der rechtszentristischen Partei „Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens“ (GERB), zu diesem Zeitpunkt mit Unterbrechungen seit elf Jahren Regierungschef.

Mit dem Rücktritt des ehemaligen Bodyguards 2021 begann, so schien es jedenfalls, die „Post-Borissow-Ära“. An die Macht kam eine Vierer­koa­li­tion unter Führung der liberalen proeuropäischen Partei „Wir setzen die Veränderungen fort“. So nannte sich die neue bulgarische Plattform, die aus den Protesten hervorgegangen war, kurz: PP.

Nach sechs Monaten war das Experiment beendet. Zu einem Sargnagel für die Koalition wurde der Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022, weil sich die mitregierenden traditionell russlandaffinen Sozialisten (BSP) mit immer noch guten Kanälen nach Moskau Waffenlieferungen an Kyjiw widersetzt hatten.

In den folgenden zwei Jahren regierten Koalitionen in unterschiedlichen Zusammensetzungen, wobei stets das Motto galt: Nach der Wahl ist vor der Wahl. Am 2. April 2023 durften die Bul­ga­r*in­nen erneut in den Wahllokalen antreten. Die GERB wurde mit 26,5 Prozent stärkste Kraft, die PP landete knapp dahinter auf dem zweiten Platz. Als Grundlage für eine Zusammenarbeit wurde ein Wechsel im Amt des/r Re­gie­rungs­che­f*in nach neun Monaten vereinbart, den Anfang machte die PP. Doch auch dieser Deal platzte.

Es ist völlig klar: Schöner wird es nicht. Glaubt man aktuellen Umfragen, die für beide Wahlen ähnliche Trends ausweisen, dürfte Borissows GERB erneut das beste Ergebnis (27 Prozent) einfahren. Um Platz zwei konkurrieren weit abgeschlagen neben der PP die Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS) sowie die rechtsradikale Partei Wasraschdane (Wiedergeburt). Letztere zwei Gruppierungen sind alles andere als Sympathieträger. Co-Chef der DPS, die sich vor allem als Interessenvertreterin der türkischen Minderheit versteht, ist Deljan Peewski. Gegen den Oligarchen, Unternehmer, Medienmogul und Abgeordneten im bulgarischen Parlament verhängten die USA 2021 Sanktionen in Zusammenhang mit Korruptionsfällen, zwei Jahre später zog Großbritannien nach.

Ein Teil der Bul­ga­r*in­nen orientiert sich gen Osten

Die prorussische Wasraschdane, die drei der 17 EU-Mandate Bulgariens holen könnte, bietet das bekannte rechtsradikale Portfolio: Forderung nach einem Referendum über einen Austritt Bulgariens aus EU und Nato, Hetze gegen Juden und Roma sowie die Propagierung „traditioneller“ Familienwerte.

Der erwartbare innenpolitische Stillstand könnte die proeuropäische Orientierung Bulgariens schwächen

Die Rhetorik kommt bei Teilen der Gesellschaft an. Vor allem eine wachsende Zahl junger Menschen in Bulgarien ist für antidemokratische Ideen empfänglich, wie Untersuchungen zeigen. Dazu passt dann vielleicht auch, dass EU-Themen im Wahlkampf aller Parteien kaum vorkommen.

Diese Unterlassungssünde könnte sich bitter rächen. Denn der zu erwartende innenpolitische Stillstand in Bulgarien könnte die proeuropäische Orientierung des Landes, aber auch Sofias Position in Brüssel entscheidend schwächen. Boris Borissow hat nur wenig Interesse, grundlegende Justizreformen inklusive Korruptionsbekämpfung voranzutreiben. DPS-Co-Chef Dejan Peewski, ein möglicher Koalitionspartner, gibt zwar den überzeugten Europäer, doch das kaufen ihm nur wenige ab.

Die scheidende Regierung hatte einen vollständigen Beitritt Bulgariens zum Schengen-Raum und der Euro-Zone zum Ziel erklärt. Das wird warten müssen, es sei denn, Sofia würde sich eindeutig für eine Reform der EU positionieren – vor allem, was die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips angeht.

Übrigens: Boris Borissow war bis 2021 ein gern gesehener Gast in Brüssel, hofiert vom damaligen EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und dem EVP-Vorsitzenden Manfred Weber. Aber auch Ex-Kanzlerin Angela Merkel stand mit Borissow auf gutem Fuß. Der Bulgare zeigte sich geschmeidiger im Umgang und weniger widerborstig als Ungarns Regierungschef Viktor Orbán.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die mit jedem kuscheln würde, wenn es denn dem eigenen Machterhalt dient, setzt diesen Kurs fort. Bei einem Treffen mit Borissow in Plowdiw vor wenigen Tagen raspelte sie Süßholz. Die GERB werde die Zerstörung europäischer Werte nicht zulassen. Und: Die Stimme Bulgariens werde in Brüssel gehört, sagte sie. Wie bitte?

Dass sich die Bulgar*innen, aus welchen Gründen auch immer, für den Status quo ante entscheiden, hat schon etwas Tragisches. Dass Brüssel jedoch wieder wegsieht, ist ein Armutszeugnis.

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Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.

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