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Warum war der Kommunismus nicht so?

Experimentelle Klänge gibt es bei einem Feldmusikfestival mit Vogelgesang nahe Berlin, Brötzmann-Nächten in Warschau, selbst gebauten Instrumenten in Hamburg und zwischen Elektronik und Improvisation unter freiem Himmel in der Uckermark

Waldbesuch inklusive: Das NNOI-Festival findet auf einem ehe­maligen Gutshof mit Schnaps­brennerei statt Foto: Daniel Pepper

Von Robert Mießner

In der chinesischen Mythologie bringt ein Wundervogel die Tonleiter, in Westafrika am Niger sollen die Menschen den Waldgeistern die Musik abgelauscht haben. Als gesichert kann gelten, dass am 5. Mai dieses Jahres in Paretz, einem Ortsteil der 400-Seelen-Stadt Ketzin/Havel, 40 Kilometer westlich von Berlin, das Festival Paretzer Field Music begonnen hat (bis 8. September).

Unter dem Titel „all about birds“ spielte ein Trio um die Flötistin Sabine Vogel, den Stimmkünstler Alex Nowitz und dem Kontrabassisten Meinrad Kneer. Der ist gleichzeitig Ornithologe; er führte am Eröffnungstag eine Vogelwanderung an und beide Ursprungsmythen zusammen. Passend dazu lief die Ausstellung „Fantastische Ornithologie“ der Künstlerin Lena Czerniawska, vorher hatte Kneer im Trio mit der Blockflötistin Susanne Fröhlich und dem Gitarristen Marc Sinan gespielt.

Die Paretzer Field Music ist eine Picknick-Konzertserie, die Veranstalter bitten die Besucher darum, Proviant und Decken selbst mitzubringen. Wer eine Schublade braucht, findet auf dem Flyer die Bezeichnung „aktuelle Musik“. Am 9. Juni werden dies Kompositionen der Akkordeonistin Eva Zöllner sein, nach ihr spielen Sabine Vogel und die Elektronikerin Kathy Hinde im Duo ORNIS und schreiben weiter an der Geschichte der gefiederten Freunde in der Musik.

Da ist mittlerweile einiges zusammengekommen: 2023 hat die Stimmkünstlerin Ute Wassermann ihr Album „Strange Songs (For Voice And Bird Calls)“ veröffentlicht. Man kann noch weit zurückgehen zu Charlie Parker, Spitzname „Bird“. Mit dem Saxofonisten beginnt der moderne Jazz. Nicht zu vergessen der Posaunist und Hobby-Ornithologe Albert Mangelsdorff; er ließ sich für sein vielstimmiges Spiel von Vogelgesang inspirieren, sein erstes Solo-Album erschien unter dem Titel „Trombirds“. Mangelsdorff war einer der Initiatoren des Jazz in Deutschland und hat mit dem oft als Free-Jazz-Berserker beschriebenen Peter Brötzmann zusammengearbeitet. In dessen Œuvre finden sich Titel wie der vom Drummer Han Bennink geschriebene „Schwarzspecht“ oder die gleich zwei Alben „Little Birds Have Fast Hearts“ mit dem Quartett Die Like A Dog.

Den zahlreichen Facetten des 2023 verstorbenen Saxofonisten, Klarinettisten und bildenden Künstlers geht das Festival 3 Nights in Tribute to Peter Brötzmann im Warschauer Klub, Platten- und Buchladen Pardon, To Tu nach (27. bis 29. Mai). In der polnischen Hauptstadt ist Brötzmann bereits zu Zeiten des Kalten Krieges aufgetreten, auf dem Jazz Jamboree 1974 im Quartett mit dem Pianisten Alexander von Schlippenbach, Peter Kowald am Bass und Drummer Paul Lovens. Legendär ist ihre Version des Brecht/Eislerschen „Einheitsfrontlieds“, sehr schön ist auch der Kommentar dazu bei Youtube: „Warum konnte der Kommunismus nicht so sein?“

Im Pardon, To Tu werden mehr als ein Dutzend Musiker reichlich zwanzig Konzerte geben. Das Spektrum reicht von Jazzern wie dem Trompeter Joe McPhee und dem Schlagzeuger Hamid Drake über Improvisationsmusiker wie den Saxofonistinnen Mette Rasmussen und Virginia Genta bis hin zu den Durcheinanderwerfern der Rockmusik, Stephen O’Malley und Caspar Brötzmann, oder dem Elektroniker Jan St. Werner.

Die beiden letzteren sind im Herbst 2019 in Berlin auf Peter Brötzmanns „Three Nights of Music“ in der Kunstfabrik am Flutgraben aufgetreten, als Brötzmann, der vom Jazz kam und ab den achtziger Jahren auch in den Bereichen Hardcore, Industrial und Elektronik arbeitete, diesen Weg hörbar machte. Festgehalten hat die „Three Nights of Music“ der Fotograf Žiga Koritnik. Bilder des Slowenen aus einem demnächst erscheinenden Buch werden in Warschau zu sehen sein. Hinzu kommen Filme. Zwischen Warschau und Berlin liegen 570 Kilometer, das ist übrigens weniger als nach München.

Format- und genreübergreifend gibt sich auch das Festival Blurred Edges in Hamburg in seiner 19. Ausgabe (31. Mai bis 16. Juni). Blurred Edges ist damit unter den hier vorgestellten die dienstälteste Veranstaltungsreihe. Von Ende Mai an 14 Tage lang wird Hamburg Austragungsort von, wie es auch hier im Programm heißt, „aktueller Musik“: Konzerte, Performances, Musiktheater, Vorträge, Multimedia Performances und Klanginstallationen sind angekündigt.

Am 2. Juni sind im Golden Pudel Club die Musikerinnen Wilted Woman und Auguste Vickunaite zu erleben. Wilted Woman, kurz WW, bürgerlich Eliza­beth Davis, hat seit 2014 20 Platten zwischen Reduktion und Lauschangriff veröffentlicht. Sie bedient selbst gebaute Instrumente und Klangerzeuger und spielt bei alldem noch Geige. In Berlin, wo sie lebt und arbeitet, ist sie auf der Transmediale oder in der Volksbühne aufgetreten, in London im Cafe Oto, einem Ort für improvisierte und experimentelle Musik.

Wer eine Schublade braucht, findet auf dem Flyer die Bezeichnung „aktuelle Musik“

Auguste Vickunaite lebt und arbeitet in Berlin und Vilnius. Gebürtig ist sie in Litauen. Dort hat sich in den letzten Jahren eine sehr rührige Szene gebildet, in der von elektronischer Musik mit Industrial-Hintergrund bis zu zeitgenössischer Klassik vieles möglich ist. Beispiele sind der in der taz besprochene Komponist Gintas Kraptavičius, die Komponistin Egidija Medekšaitė oder das Ensemble Synaesthesis. Vickunaite hat bis dato zwei Alben veröffentlicht, eines davon ganz oldschool und wieder aktuell auf Tape. Die Physikerin Vickunaite arbeitet mit Kassettenrekordern, Fundstücken, Field Recordings, Stimme und Musikinstrumenten, mit Zerfall und Zufall, mit Langeweile und Langsamkeit. Unlängst konnte man sie in Berlin im Klub Ausland erleben.

Sowohl Wilted Woman als auch Auguste Vickunaite, sie im Duo mit der Sopranistin Nina Guo, sind 2020 auf einem Freiluftfestival in der Uckermark aufgetreten: Die Rede ist vom NNOI-Festival an der Zernikower Mühle/Oberhavel, 80 Kilometer nordöstlich von Berlin, das in diesem Jahr in seine neunte Runde geht (19. bis 21. Juli). Das Gelände ist ein ehemaliger Gutshof mit Schnapsbrennerei, auch hier ist ein Waldgang möglich und wird gerne angenommen, wie Filme früherer Ausgaben belegen. In diesem Jahr wird der Hörspielproduzent Hermann Bohlen auf die umliegenden Hochstände führen.

Die Wald- und Wiesenbühne des NNOI werden am 20. Juli der Posaunist Hilary Jeffery und die Keyboarderin Elena Poulou bespielen. Beide bilden Organza Ray, eine mal als Duo, mal als Trio oder in größeren Besetzungen auftretende Formation zwischen Elektronik und Improvisation. „Dancing Butterfly Blues“ sagen Jeffery und Poulou dazu, und das trifft es ganz gut. Wer weiß, vielleicht findet ein Schmetterling den Weg in eine der Klanginstallationen von Douglas Henderson, die bereits ab dem 6. Juli in der Alten Brennerei Zernikow zu sehen sein werden. Henderson übrigens sitzt ansonsten am Mischpult für die Noise-Rocker Swans. Schöne und nicht ganz ungefährliche Vögel.

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