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Kleine Geheimnisse des Lebens und der Kunst

In ihrem neuen Roman „Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen“ spinnt die Schriftstellerin Dana Grigorcea ein poetisch leichtes Erzählgeflecht zwischen zwei Jahrhunderten und zwei Kontinenten

Von Katharina Granzin

Eigentlich trennt ein ganzes Jahrhundert die ProtagonistInnen dieses Romans, und doch scheint es so, als seien ihre Leben nur zwei Kehrseiten derselben Geschichte. Das hängt natürlich vor allem damit zusammen, dass die eine Handlungsebene von der anderen abhängig ist. Denn in Dana Grigorceas neuem Roman schreibt eine Frau einen Roman: Die Schriftstellerin Dora ist mit ihrem achtjährigen Sohn Loris sowie einem eigens für die Reise angeheuerten Kindermädchen nach Italien gefahren, um ein Stipendium anzutreten. In einem schönen Hotel mit Meerblick beziehen sie die beste Suite, in der Dora viel Zeit am Schreibtisch verbringen wird, während Loris und das Kindermädchen anderen Vergnügungen nachgehen. Aus dieser im Grunde genommen ziemlich statischen Ausgangssituation spinnt Dana Grigorcea ein feines, flirrendes Netz aus erzählerischen Querbezügen, Möglichkeiten und Ahnungen, das zwei sehr verschiedene Zeitebenen miteinander verbindet.

Denn die Geschichte, an der Dora arbeitet, spielt im Jahr 1927 und handelt davon, dass der Bildhauer Constantin Avis aus Paris nach New York kommt, um einen Galeristen zu treffen, der ihm eine erste große Einzelausstellung auf US-amerikanischem Boden versprochen hat. Wie Constantin schon bei der Einreise Opfer eines Missverständnisses wird, weil die Zollbeamten eine mitgeführte Skulptur nicht als Kunst akzeptieren, wie er auf eine junge Frau im goldenen Kleid trifft, in die er sich verlieben wird, und wie sein Leben immer wieder am Rande mit dem berühmten italienischen Stummfilmstar Alba Fantoni in Berührung kommt, davon erzählt also Doras Roman.

Zur selben Zeit – die Handlungsebenen wechseln sich in loser Folge kapitelweise ab – geht ungefähr ein Jahrhundert später Doras äußeres Leben an der italienischen Mittelmeerküste seinen Gang. Und weil Dana Grigorcea es ganz und gar aus Doras eigener Perspektive erzählt, wird das leicht Befremdliche im Verhalten und Denken der Schriftstellerin auch kaum auffällig. Während Dora mit dem Kopf, und auch physisch am Schreibtisch, meist ganz in ihrem Roman steckt, ist sie nicht wirklich imstande, den Bedürfnissen ihres Kindes nachzukommen. Weder kann sie nachspüren, wie sehr der Junge mit den noch lebenden Krebsen in der Auslage eines Restaurants mitleidet, noch denkt sie daran, eine geplante Wanderung aufzugeben, nur weil Loris keine Lust dazu hat. Das ist alles nicht so schlimm, denn Dora liebt ihren Sohn ja sehr, und irgendwie bekommt er am Ende doch immer, was er braucht, nur eben oft nicht von ihr, weil sie innerlich gerade nicht ganz bei ihm sein kann. Aber warum hält sie eigentlich ihren langjährigen treuen Liebhaber vor ihm geheim? Wir erfahren es nicht, ebenso wenig wie vieles andere.

Was ist das Wesen der Kunst? ist die große, explizite Frage, die über der Geschichte des Bildhauers Constantin Avis steht, der am Ende einen Prozess gegen die amerikanische Zollbehörde führen wird, um juristisch nachweisen zu lassen, dass es sich bei seiner abstrakten Vogelskulptur um Kunst handelt. Auch die Stummfilmdiva Alba Fantoni, die als Nebenfigur fast leitmotivisch immer wieder auftaucht, steht im Zentrum dieser Frage, ist es doch ihre Kunst, die am Ende des Romans von niemandem mehr gebraucht wird. Implizit aber durchzieht noch ein weiterer Themenkomplex den Roman, der viel größer ist als ersterer und der die Frage, oder die vielen Fragen, die sich dazu stellen ließen, nach der Beziehung zwischen Kunst und Leben betrifft.

Dana Grigorcea: „Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen“. Penguin, München 2024, 191 Seiten, 24 Euro

Einige davon sind diesem Roman deutlich zwischen den Zeilen eingeschrieben, und am Ende bleiben sie alle, wie vieles andere auch, nach vielen Seiten offen. Als wäre alles nur ein Spiel, zeigt Dana Grigorcea ganz leichthin nebenbei, wie Details aus dem realen Leben hinüberwandern in das fiktive, in diesem Falle also in die Kunst, und dort zu etwas anderem werden. Und funktioniert es vielleicht auch umgekehrt? Am Ende ist Doras Buch möglicherweise noch nicht ganz fertig, sodass wir nicht sicher sein können, wie Constantins Geschichte ausgeht.

Dasselbe gilt für Dora, denn das Leben geht ja immer weiter. Und in diesem eigentlich gar nicht schwergewichtigen, poetisch leicht gesponnenen Roman steckt eine magische Superpower, die bewirkt, dass ihn auch dann, wenn man ihn längst zugeklappt hat, noch tausend erzählerische Möglichkeiten unsichtbar umschweben.

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