„Vor Sonnenaufgang“ am Theater Bremen: Auch ohne Erbe alles krank

Ein toll niederschmetternder Theaterabend in Bremen: Ewald Palmetshofers „Vor Sonnenaufgang“ nutzt Gerhart Hauptmanns Vorlage, braucht sie aber nicht.

Bild von der Aufführung: Auf der Bühne steht das Ensemble, Bauplanen wehen.

Das tolle Ensemble steht mitten im Morgengrauen, das sich anfühlt, wie ein Untergang Foto: Jörg Landsberg/Theater Bremen

Zum Schluss fliegt alles ausein­ander. Sprache, zerfetzt, geschrieen, die Personen, simultane Aktionen, keine Handlung, taumelnde Menschen zwischen wehenden Bauplanenstreifen. Meterlang fluddern die aus dem Schnürboden, grell von Licht beglänzt. So schön und schrecklich geht Ewald Palmetshofers Drama „Vor Sonnenaufgang“ in Bremen zu Ende. So bricht der Tag an. Alles strahlt.

Hier, in diesem Bild, lässt Regisseur Klaus Schumacher in seiner Produktion tatsächlich doch noch einmal Gerhart Hauptmanns Kunst durchscheinen: Auch dessen Theater-Erstling „Vor Sonnenaufgang“ endet, anders als Palmetshofers Text, im großartig orchestrierten Taumel der Zusammenhanglosigkeit, in Schreien, Schmerz, Lallen, Satzhälften, Parallelgeschehen.

Klug. Denn dieser öffnende Schluss des 1889 verfassten Erbgesundheitslehrstücks ist noch sehr brauchbar – anders als der Rest. Statt Handlung hatte es die sozial-chemische Formel Bauernfamilie + Alkoholismus = unentrinnbarer Fluch auf die Bühne gebracht.

Palmetshofer hat das Drama 2017 entkernt: Wie ein Architekt in die verbliebene Hülle eines dysfunktional gewordenen Baukörpers Sozialwohnungen, Büros oder ein Museum baut, hat der österreichische Dramatiker es gefüllt mit einem klugen, niederschmetternden Konversationsstück.

Das bedient sich der Vorlage nur, um dann und wann ein altertümliches Element als nostal­gisches Deko-Element ins Geschehen ragen zu lassen, den unangenehmen Sex-Anbahnungsdialog aus Akt zwei etwa. Außerdem borgt Palmetshofer den Titel, die Namen und die Konstellation der Figuren.

Schwelende Konflikte

Gelöscht hat er dafür die exklusiv von Männern erörterte Frauenfrage. Der alle Wendungen des Dramas motivierende Alkoholismus ist kein unentrinnbares genetisches Fatum, sondern beiläufige Zutat. Und Schlesisch spricht zum Glück auch keiner mehr.

Schumachers unprätentiöser Regie gelingt es, aus allen sieben doch eher am Reißbrett entstandenen Figuren leibhaftige Menschen zu machen, aus den Schau­spie­le­r*in­nen – Guido Gallmann, Susanne Schrader, Lieke Hoppe, Simon Zigah, Martin Baum – ein fantastisch aufein­ander reagierendes, einander wechselseitig Raum gebendes Ensemble. Eines, in dem wirklich alle, gleichwertig brillieren können – und es auch tun.

Die von Katrin Plötzky gestaltete und von Christian Kemmetmüller effektvoll und sinnig ausgeleuchtete Kulisse, die am Ende so wirkungsvoll auseinanderfliegt, ist ein hinter milchig-transparenter PVC-Folie eingerüstetes Haus, dessen substanzielle Umgestaltung nicht abgeschlossen ist, immer noch nicht!

Dorthin kehrt Egon Krause, Gründer eines Automobilzulieferer-Familienunternehmens, nachts besoffen zurück: zu seiner zweiten Frau Annemarie, die ihn schon lange lieber los wäre. Seine hochschwangere und tief depressive Tochter Martha wartet dort mit ihrem frustrierten Gemahl Thomas Hoffmann aufs Kind, darauf aus, durch die Mutterschaft ein neuer Mensch zu werden – und endlich in den Anbau einzuziehen, der halt ewig nicht fertig wird.

Schauspiel „Vor Sonnenaufgang“ von Ewald Palmetshofer nach Gerhart Hauptmann, Theater Bremen, Großes Haus, wieder am 26. 4., 3. und 9. 5., 19.30 Uhr am 25. 5., 18 Uhr sowie 1. und 28.6., 19.30 Uhr

Auch anwesend ist Helene, die jüngere Schwester, angeblich, um bei der Entbindung zu helfen, aber vor allem, weil sie sich in der Stadt ruiniert hat. Der Vorortarzt, der mal hat in die Forschung gehen wollen, untersucht die Schwangere, deren psychische Krankheit ihn aber überfordert.

Die schwelenden Konflikte ins Lodern bringt der reingeschneite Journalist Alfred Loth, ein irgendwie-links gebliebener Studienfreund und WG-Genosse des nach rechts abgedrifteten Firmen-Erbaspiranten Hoffmann. Diesen Loth treibt um, was er als Spaltung der Gesellschaft empfindet, also: dass aus der Nähe von einst stetig wachsende Entfernung geworden ist.

Aus Angst davor sucht er die Konfrontation, kommt aber analytisch dabei nicht weit: „Ich bin gekommen, weil ich wissen wollte, ob du auch / – / – /–“, sagt er im zentralen Zwiegespräch zu seinem einstigen Zimmernachbarn.

Es folgen sieben weitere von Alexander Swoboda meisterhaft schweigend artikulierte Wortfindungsschwierigkeiten, bevor es weitergeht: „Na gut / dann geh ich mal.“

Loth ergreift die Flucht. Wo der deterministische Hauptmann Enthaltsamkeit und Eugenik nahelegt, hat Palmetshofer gar keine Lösung im Angebot: Ratlosigkeit ist die Katastrophe der Gegenwart. Wahrscheinlich deswegen wird unverzüglich, kaum hat das Black das grelle Bühnenlicht überschrieben, derart verzweifelt geklatscht, und völlig zurecht begeistert.

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