Ungleichheitund kein Ende

Hinaus zum 1. Mai – und gemeinsam gegen die Zumutungen des Kapitalismus. taz-Reporter:innen berichten aus Deutschland und der Türkei, aus dem Libanon, Indien und Schweden über wachsenden Unmut bei Menschen, die sich engagieren

Kein Durchkommen zum Taksim-Platz in Istanbul: Ge­werk­schafts­mitglieder und Demonstranten im Clinch mit türkischen Polizei­beamten. Sie trotzen dem Regierungsverbot, den 1. Mai dort zu feiern. Es gibt Dutzende Festnahmen  Foto: Khalil Hamra/ap/dpa

Aus Hamburg und Berlin Katharina Schipkowski
und Erik Peter

Warum sind Schwangerschaftsabbrüche auch eine Klassenfrage? Welche Perspektiven sehen linke Land­wir­t*in­nen bei der Agrarpolitik der EU? Wie können Geflüchtete die Schikanen der Bezahlkarte umgehen? Solche Fragen waren inhaltliche Schwerpunkte auf der Hamburger Demo des Umverteilungsbündnisses „Wer hat, der gibt“. Mehrere tausend Menschen zogen am Mittwochnachmittag vorbei an Alstervillen durch das Reichenviertel Harvestehude. In den vergangenen Jahren hatte das Bündnis „Wer hat, der gibt“ bereits den Protest zum Tag der Ar­bei­te­r*in­nen in Viertel mit hoher Millionärsdichte getragen – auch nach Blankenese und Eppendorf. Das Bündnis, das im Jahr 2020 als linke Antwort auf die Coronapandemie entstand, setzt sich für ein gerechteres Steuersystem und gegen exzessiven Reichtum ein.

„Wir haben es satt, dass unsere Gesellschaft zu einem Selbstbedienungsladen für Reiche verkommt!“, sagte der Sprecher des Bündnisses, Ansgar Ridder, bei der Auftaktkundgebung am Dammtor. Während Tausende Menschen auf der Straße schliefen, scheffelten andere Millionen. Hart arbeitende Menschen müssten Wohngeld und andere Sozialleistungen beantragen, weil die Mieten und die Lebenshaltungskosten ins Unermessliche stiegen. „Soziale Ungleichheit müsste zusammen mit der Klimakatastrophe das Topthema sein“, forderte Ridder. „Die Ampelregierung interessiert sich aber nicht dafür.“ Von der Politik könne man nur noch enttäuscht sein, für Linke gäbe es kaum noch eine wählbare Partei.

In den Demozug unter dem Motto „Wir haben die Scheiße so satt“ sortierten sich sowohl viele Kli­ma­ak­ti­vis­t*in­nen als auch Geflüchteteninitiativen ein, Mietrechts- und Enteignungsinitiativen, Fe­mi­nis­t*in­nen und Hafenarbeiter. Damit ist die Demo auf alle Fälle die am breitesten aufgestellte unter den Hamburger 1.-Mai-Demonstrationen. Am Mittwochmittag waren die An­ar­chis­t*in­nen vom Schwarz-Roten 1. Mai mit 1.600 Personen durch die Sternschanze gezogen. Die An­ti­im­pe­ria­lis­t*in­nen vom Roten Aufbau, bei denen sich auch die linken Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen der Gruppe Thawra einsortierten, starteten nach Redaktionsschluss. Am Dienstagabend waren rund 1.700 Fe­mi­nis­t*in­nen im Rahmen der traditionellen „Take back the Night“-Demos von der Roten Flora zur Reeperbahn gelaufen.

Für Überraschung hatten im Vorfeld die An­ar­chis­t*in­nen gesorgt, die dazu aufgerufen hatten, entgegen ihrer Tradition dieses Mal nicht als Schwarzer Block zu erscheinen. „Anarchismus ist mehr als der schwarze Block“ schrieb das Bündnis Schwarz-Roter 1. Mai auf seinen Social-Media-Kanälen. Man wolle Barrieren abbauen und anschlussfähiger sein, um vielfältigeren alternativen Gesellschaftsentwürfen Ausdruck zu verleihen. Der veränderte Dresscode ist allerdings auch als Schutzstrategie zu verstehen. Im vergangenen Jahr hatte die Polizei die Anarcho-Demo brutal am Losgehen gehindert, ein Demonstrant erlitt ein Schädelhirntrauma. Die Demonstration jetzt konnte problemlos starten und zog laut und friedlich durch das Schanzenviertel. Der einzige schwarze Block war der, der vor der Demo lief: die Hundertschaften der Hamburger Polizei.

Linke, die Polizei spielen – bei der 1.-Mai-Demo im Berliner Grunewald ist das dagegen gewollt und erlaubt. Die seit jeher satirisch aufgezogene, aber politisch durchaus ernstzunehmende Demonstration der Hedonistischen Internationale im südwestlichen Berliner Reichenviertel hatte dieses Jahr zum „SEK-Einsatz“ gerufen. Als „Spezial-Enteignungs-Kräfte“ sollten die „Lobbyist*innen, Aktionäre und Steuerflüchtigen“ in den Blick genommen werden.

Und so fanden sich auf der Auftaktkundgebung am Johannaplatz zahlreiche uniformierte De­mons­tran­t:in­nen ein – autonome Einsatzkräfte mit SEK-Westen und Polizeimützen. Aufkleber wiesen sie aus als „Abteilung kapitalistische Gewalt, Gemeinwohlschädigung und Finanz-Extremismus“. Ein „Polizei-Orchester“ spielte den Böhmerman-Klassiker „Ich hab Polizei“.

„Wir razzen Euer Villenviertel“, lautete das Motto auf dem zentralen Einsatz-Lauti, dem Lautsprecherwagen. Zu beobachten war dann etwa die Präsentation von Beweisstücken, die beim Kapital-Lobbyverband „Die Familienunternehmer“, dem „gefährlichsten Familienclan Deutschlands“, gefunden wurden, so etwa eine Schere zwischen Arm und Reich, die „bewusst aufgezogen“ wird, und ein Golfschläger zur „Zerschmetterung des Sozialstaates“.

Die ernste Aussage hinter dem Spektakel ist klar: Die ungleiche Reichtumsverteilung ist das zentrale gesellschaftliche Problem. Arbeit gegen Kapital gewissermaßen, nur nicht mit ernster Mine und roten Fahnen, sondern mit Glitzer und Konfetti. Typische Szenekonflikte und das schon vor der abendlichen Revolutionären 1.-Mai-Demo allgegenwärtige Thema Palästina waren hier wie ausgeblendet.

Für konkrete Kritik an den Zuständen hierzulande war jedoch dann genug Raum. In einer Rede wurde ein „höchst ungleiches Steuersystem“ angeprangert, das Arbeit hoch versteuert, während Vermögen und Erbschaften kaum versteuert werden. Auch werde Finanzkriminalität kaum geahndet, dem Staat ginge durch Steuerbetrug ein Vielfaches des Geldes verloren, das durch Sozialbetrug verschwinde. „Kapitalverbrechen sind kein Kavaliersdelikt.“ Und im Publikum verteilten Ak­ti­vis­t:in­nen täuschend echte 500-Euro-Scheine – die „Cum-Ex-Kohle“.

Im Publikum in Berlin-Grunewald verteiltenAk­ti­vis­t:in­nen täuschend echte 500-Euro-Scheine – die „Cum-Ex-Kohle“

Den Höhepunkt des Programms bildete dann die Live-Performance eines abgewandelten Popsongs: „Wrecking the walls of capitalism“. Auf einer Abrissbirne schwingend, träumten die Ak­ti­vis­t:in­nen von der Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse.

Mit zunächst etwa 5.000 Teil­neh­me­r:in­nen in Berlin-Grunewald waren es bei der inzwischen sechsten Auflage etwa so viele De­mons­tran­t:in­nen wie im Vorjahr. Begleitet wurde der folgende Demonstrationszug entlang pompöser Villen und skeptischer Blicke der Anwohnenden von einem Großaufgebot der echten Polizei, die den Grunewald abriegelte und damit der Forderung der De­mons­tran­t:in­nen nach einer Umzäunung des Viertels nachkamen.

Zu verstehen ist die Forderung als Antwort auf Pläne des schwarz-roten Berliner Senats, den Görlitzer Park in Kreuzberg zu umzäunen und nachts abzusperren – sie werden als hilflose Maßnahme gegen Drogen- und Gewaltkriminalität gesehen. Im Grunewald hatte die Polizei konsequent alle Rasenflächen gesperrt. Ganz so, als würde das Betreten dieser durch die Massen unweigerlich zur Revolution führen.