Studie zu Abtreibungen: Im Emsland nichts Neues

Nach der Elsa-Studie gehört Niedersachsen zum Mittelfeld bei der Versorgung von Schwangerschaftsabbrüchen. Doch manche Regionen stehen schlechter da.

Ein rotes Kreuz vor einer Klinik

Hier geht’s zur Notaufnahme: Der Weg zum Schwanger­schafts­abbruch ist vielerorts viel zu weit Foto: Julian Stratenschulte / dpa

BREMEN/MEPPEN/NORDHORN taz | Als vor einer Woche die Ergebnisse der Elsa-Studie zu Schwangerschaftsabbrüchen in einem sechsstündigen Video-Meeting vorgestellt wurden, saß Dagmar Wölk-Eilers zu Hause im Emsland vor dem Monitor, als eine von Hunderten Zuschauenden. Sie hörte, was sie seit über 20 Jahren weiß, seitdem sie Frauen berät, die eine Schwangerschaft abbrechen wollen: dass es in ihrer Region weit und breit keine Praxis, keine Klinik gibt, die ihnen hilft.

Das hatte sie vor sieben Jahren bereits der taz erzählt, als diese als bundesweit erstes Medium über die Versorgungslücken beim Schwangerschaftsabbruch in Deutschland berichtet hatte. Die sind nicht nur in Südostbayern besonders groß, wie es jetzt oft in Medienberichten heißt, sondern auch im Westen Niedersachsens. Je nachdem, wo sie wohnen, müssen Frauen dort 100 Kilometer und mehr fahren bis zur nächsten Praxis oder Klinik, die Schwangerschaftsabbrüche durchführt.

Die Frage, wie es die Situation im Sinne der dort lebenden Frauen zu verbessern gedenke, beantwortete Niedersachsens Gesundheitsministerium bis 2021 mit der Formel: „Dem Ministerium liegen keine Informationen über Versorgungslücken im Land Niedersachsen vor.“

Das kann es nun nicht mehr tun. Niedersachsen gehört nach den Ergebnissen der Elsa-Wissenschaftler:innen, die im Auftrag der Bundesregierung erstmals den Versorgungsgrad untersucht haben, zwar zu den sechs Bundesländern im Mittelfeld. Schlechter versorgt sind danach Frauen in Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. In den anderen drei norddeutschen Bundesländern wird der Versorgungsgrad als hoch eingestuft.

Es gibt aber in Niedersachsen mehrere Regionen, in denen die Anfahrtswege mit dem Auto mehr als 40 Minuten betragen. Dieses Kriterium hatten die von der Hochschule Fulda koordinierten Wis­sen­schaft­le­r:in­nen entwickelt und sich dabei an den Vorgaben für die Erreichbarkeit gynäkologischer Praxen orientiert. Der Grund für dieses Vorgehen: Der Gesetzgeber hat die Länder nur verpflichtet, ein ausreichendes Angebot sicherzustellen, ohne „ausreichend“ zu definieren.

Ungleiche Verteilung in Niedersachsen

Mehr als 40 Minuten zur nächsten Praxis oder Klinik fahren ungewollt Schwangere mit Wohnsitz an der Elbemündung, im Wendland, im Harz, an den Küsten und in Westniedersachsen. Die Wis­sen­schaft­le­r:in­nen hatten zusätzlich ausgerechnet, wie viel Prozent der Bevölkerung eines Landkreises in einer solchen besonders schlecht versorgten Region leben. Diese Ergebnisse liegen der taz vor.

Im Emsland sind dies 45,7 Prozent, in der Grafschaft Bent­heim 30,1 Prozent, in Cloppenburg 26,1 Prozent, in Lüchow-Dannenberg 20 Prozent. In allen anderen Landkreisen sind es unter sechs Prozent. In Schleswig-Holstein ist der Versorgungsgrad in nur einem Landkreis ähnlich niedrig: in Nordfriesland mit 21,5 Prozent. In Bayern gibt es Landkreise, in denen 100 Prozent der Be­woh­ne­r:in­nen betroffen sind.

Bei der Vorstellung der Ergebnisse am Mittwoch vergangener Woche hatten die Wis­sen­schaft­le­r:in­nen zu bedenken gegeben, dass zum einen nicht alle Menschen über ein Auto verfügen und zum anderen die Wege deutlich länger sein können, wenn es in der nächstgelegenen Praxis oder Klinik keinen zeitnahen Termin gibt.

„Die Frauen fallen aus allen Wolken, wenn sie von uns hören, wo sie zum Abbruch hin müssen“, erzählt Wölk-Eilers, die mit ihrer Kollegin Anja Mählmann den Bereich Schwangerschaftskonfliktberatung beim Diakonischen Werk Emsland-Bentheim leitet. Wölk-Eilers arbeitet in Meppen, 20 Kilometer vor der niederländischen Grenze gelegen, Mählmann etwas weiter südlich nahe Nordrhein-Westfalen im Grenzort Nordhorn.

Beraterinnen fahren Frauen zur Klinik

Sie listen im Zoom-Gespräch mit der taz auf, was die Betroffenen neben der Fahrt – für deren Kosten sie selbst aufkommen müssen – organisieren müssen: eine Begleitperson, wenn es sich um einen chirurgischen Eingriff in Vollnarkose handelt und in vielen Fällen die Betreuung von Kindern über mehrere Stunden oder einen ganzen Tag. Und das nicht selten zweimal, weil manche Einrichtungen das medizinische Aufklärungsgespräch vor der OP auf einen anderen Tag legen.

Die Klinik in Osnabrück bestelle ihre Patientinnen grundsätzlich um sieben Uhr morgens ein, egal, wann der Eingriff sei, erzählt Mählmann, die seit 15 Jahren in der Schwangerschaftskonfliktberatung arbeitet. Der erste Zug aus Nordhorn, mit dem man mit Umstieg in Bad Bentheim um 6.45 Uhr am Hauptbahnhof in Osnabrück ist, fährt um 5.30 Uhr. „Der fällt aber oft aus und dann stehen Sie da, haben alles organisiert, sind aufgeregt und wissen, jetzt geht der Stress von vorne los und Sie brauchen einen neuen Termin und den möglichst bald.“

Es gibt immer wieder Fälle, in denen die Frauen niemanden haben, der ihnen hilft, weil sie den Abbruch geheim halten aus Angst, angefeindet oder zum Austragen überredet oder gezwungen zu werden. Manche sind nicht mobil, weil keine öffentlichen Verkehrsmittel existieren und sie sich ein Taxi nicht leisten können. Das sind oft Frauen in prekären Lebenslagen, die arm sind, wenig oder kein Deutsch sprechen.

„Dann springen wir notgedrungen ein“, sagt Wölk-Eilers. Etwa ein- bis zweimal im Jahr komme dies vor. Ihre Kollegin Mählmann erinnert sich an drei Frauen im vergangenen Jahr. Die Beraterinnen holen sie dann im eigenen Auto ab, außerhalb ihrer Dienstzeiten, müssen andere berufliche und private Termine absagen. Ihre Aufgabe ist dies nicht. „Aber was sollen wir machen, wenn sie in der Beratung vor uns sitzen, und wir wissen, wenn wir es nicht machen, macht es niemand?“, fragt Mählmann.

Von der Politik ignoriert

Aus beiden Frauen spricht viel Ratlosigkeit. „Was muss passieren, damit sich endlich etwas ändert?“, fragt Wölk-Eilers. Noch nie habe sich eine Politikerin oder ein Politiker vor Ort bei ihnen über die Situation informiert, mal nachgefragt, ob es stimmt, was die taz seit 2017 berichtet, weder ein:e Par­la­men­ta­rie­r:in noch ein:e Gesundheitsministerin, in Niedersachsen auch verantwortlich für die Gleichstellung von Frauen.

Dabei zeigt das Beispiel Bremen, dass es möglich ist, mehr Ärz­t:in­nen dafür zu gewinnen, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. 2018 gab es nach Angaben des statistischen Bundesamtes im Bundesland Bremen nur 13 Stellen, die Schwangerschaftsabbrüche gemeldet hatten. Diese Zahl stieg sukzessive auf 23 im vergangenen Jahr.

Allerdings arbeiten in Bremen, anders als in Niedersachsen, sowohl die Landesärztekammer als auch der Berufsverband der Frauenärzte sowie die Politik daran, die Bedingungen für ungewollt Schwangere zu verbessern. Im Landtag stimmten selbst Po­li­ti­ke­r:in­nen von FDP und CDU nach einer bemerkenswert sachlichen Debatte mit Grünen, Linken und SPD für ein Gesetz, das das Land Bremen verpflichtet, „bedarfsgerechte Angebote zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen“ sicherzustellen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.