Abtreibungsrecht in Polen: „Goebbels“-Rufe und Babygeschrei
Es war ein Wahlversprechen: Der Sejm in Polen hat die Liberalisierung des Abtreibungsrechts diskutiert. Jetzt muss ein Sonderausschuss ein Gesetz daraus machen.
Am Mittwoch diskutierten Polens Parlamentarier sechs Stunden lang über die Liberalisierung des Abtreibungsrechts. Am Donnerstag warf Jaroslaw Kaczynski von der nationalpopulistischen Oppositionspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) noch einen „Goebbels!“ in die Runde, konnte damit aber auch nicht mehr verhindern, dass die neue Mitte-Links-Koalition unter Premier Donald Tusk ihr Wahlversprechen einlöste, mit dem sie im Oktober 2023 die Wahlen gewonnen hatte: sie sprach sich geschlossen für die Liberalisierung des Abtreibungsrechts aus.
Heillos zerstrittene Koalitionäre
Dabei sah es zunächst so aus, als könnte das große Projekt scheitern. Denn die drei Koalitionäre aus liberalkonservativer Bürgerkoalition (KO), dem Parteienbündnis Dritter Weg aus Bauernpartei PSL und der christdemokratischen Polska2050 und der Neuen Linken aus den Sozialdemokraten und dem rotgrünen Wiosna (Frühling) zerstritten sich heillos.
Schließlich legten sie dem Sejm nicht ein gemeinsames Gesetzesprojekt zur Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes vor, sondern gleich vier unterschiedliche, die als sehr liberal (zwei Projekte der Neuen Linken), liberal (Bürgerkoalition) und sehr konservativ (Dritter Weg) gelten können. Ein Sonderausschuss im Sejm soll es nun richten und aus den vier Projekten eines formulieren, mit dem alle leben können. Auch das beschloss am Donnerstag die Mehrheit der polnischen Abgeordneten gegen den empörten Aufschrei der PiS-Anhänger.
Abtreibungszahlen weit höher als offiziell bekannt
„Allein in diesem Monat haben 9.000 Frauen in Polen einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen“, sagte Anna Maria Zukowska, die Fraktionsvorsitzende der Linken, in der Debatte am Mittwoch und schockierte damit die Anwesenden. Jahrelang wiesen die offiziellen Statistiken nur um die 1.000 legale Abtreibungen für das ganze Jahr aus. Seit der weiteren Verschärfung des Abtreibungsrechts im Jahr 2020 durch das Verfassungstribunal sind die Zahlen auf ein paar hundert gesunken.
Dafür sterben immer mehr Schwangere, deren Leben man durch einen rechtzeitigen Abbruch hätte retten können. „Es ist höchste Zeit, dass wir über Frauen reden“, so Zukowska. „Nicht nur über Eierstöcke, Föten und Weltanschauungen von Ärzten, Bischöfen und Verfassungsrichtern.“
Hitzige Debattenbeiträge
Dorota Olka von der unabhängigen Linken „Razem“-„Gemeinsam“ plädierte für die Entkriminalisierung der Hilfe bei der Abtreibung durch dritte Personen. So kann man heute für die Weitergabe einer Abtreibungspille oder auch nur einer SOS-Adresse für ungewollt Schwangere mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden.
Monika Wielichowska von der Fraktion der Bürgerkoalition kritisierte die „Heuchler, die nicht anerkennen wollten, dass es Abtreibung gab, gibt und geben wird“. Der Staat müsse den Frauen das Recht auf die eigene Entscheidung zurückgeben. „Wir als Politiker müssen die Frauen unterstützen, statt ihnen zu drohen und sie zu erniedrigen“, so Wielichowa.
Dariusz Matecki von der oppositionellen PiS brachte ein großformatiges Plakat mit dem Bild eines angeblich 10wöchigen und seiner Ansicht nach schon vollentwickelten „ungeborenen Kindes“ mit ans Rednerpult. Als eine andere Abgeordnete an das Pult trat, drückte er auf einen Knopf auf der Rückseite des Plakates – und im ganzen Saal waren die Herztöne „eines Menschen“ stellvertretend für alle zu hören, die die Regierungspolitiker angeblich „töten“ wollten, so Matecki.
Agnieszka Buczyńska vom agrarisch-christlichem Dritten Weg war es wohl selbst ein bisschen peinlich, den „Abtreibungs-Kompromiss“ von mehrheitlich männlichen Abgeordneten und katholischen Bischöfen verteidigen zu müssen, den diese vor dreißig Jahren über die Köpfe der Polinnen hinweg geschlossen hatten. „Unser Projekt geht über den Kompromiss hinaus“, erklärte sie im Sejm. „Die Verhütung soll künftig kostenlos sein. Und wir wollen die Polen und Polinnen in einem großen Referendum befragen und entscheiden lassen.“
Umsetzung des Wahlversprechens erwartet
Umfragen zeigen allerdings, dass zwischen 50 und 60 Prozent aller Polinnen und Polen die Umsetzung des Wahlversprechens der Koalition durch ein liberales Abtreibungsgesetz erwarten. Interesse an einem zusätzlichen Referendum haben hingegen lediglich rund 30 Prozent aller Stimmberechtigen. Szymon Holownia aber, der Co-Chef des christlich-agrarischen Dritten Wegs, hat in letzter Minute noch einmal die Kurve gekriegt und dafür gesorgt, dass auch seine Leute für alle vier Gesetzesprojekte stimmten. Holownia will 2025 Nachfolger von Präsident Andrzej Duda werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen