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Verzweifelte Suche einer Mutter

„Kämpferinnen“ von Olena Sachartschenko ist ein vielschichtiger Roman über die Ereignisse auf dem Maidan in Kyjiw, mit denen vor zehn Jahren der russische Krieg gegen die Ukraine begann

Kampf um Würde: Maidan, 20. Februar 2014 Foto: Maxim Shipenkov/picture alliance

Von Alexander Kratochvil

Wie können literarische Darstellungen traumatisierender Erlebnisse aussehen, die gerade mal ein paar Jahre her sind? Zum Beispiel wie in diesem Roman von Olena Sachartschenko.

Gekämpft wird in ihm in mehrfacher Hinsicht. Sprachlich mit dem Ringen um Worte, um eine Welt darzustellen, die Kopf steht. Ganz real gekämpft wird auf dem Maidan in Kyjiv für die Würde der Ukraine gegen die von Putin korrumpierte Mafiaregierung des damaligen ukrainischen Präsidenten. Und gekämpft wird auch für die Familie und die Nächsten. Dabei sind die „Kämpferinnen“, die diesem Roman den deutschen Titel geben, weit entfernt von falschem Heroismus.

Mit der ersten Seite des Romans gerät man sogleich in den Wirbel der Ereignisse von Anfang 2014. Im Mittelpunkt des Romans steht Katja mit ihrem Sohn Danylo, der in der Nähe des Maidans zur Schule geht: „ ,Wärst du heute mal zu Hause geblieben!‘, sagte Witka verärgert und gab mir ein Glas Wasser und eine Pille. ,Trink das … Also, warum hast du ihn heute zur Schule gebracht?!‘ Er, das ist mein Sohn. Seine Schule befindet sich an der Ecke Olhynska und Institutska. In der Nähe der Nationalbank. Genau dort bei der U-Bahn-Station, wo es heute die meisten Kämpfe und Toten gegeben hat. Schenja war losgezogen, um ihn zu suchen. ,Wer konnte das denn ahnen?‘, murmelte ich.“

Der Sohn Danylo und sein Klassenkamerad sind von Berkut-Leuten, jenen berüchtigten, schwerbewaffneten Polizeisondertruppen auf dem Maidan, mitgenommen worden. Es folgt die verzweifelte Suche der Mutter nach ihrem Sohn. Während auf den Straßen und Plätzen von Kyjiws Zentrum die Gewalt eskaliert, schlägt sie sich durch eine Art Unterwelt, ein unübersichtliches Labyrinth aus Tunneln, Kanälen, Bunkern und uralten Höhlen, durch das Protestierende fliehen, sich verlieren und wiederfinden, in dem sich aber auch Polizeikräfte sammeln und formieren.

Danylo und sein Freund landen, nachdem sie von den Berkut-Leuten beim Versuch Helden zu spielen erwischt wurden, in einem Keller, in dem Demonstranten festgehalten werden. Das Motiv der Reise durch die Unterwelt findet sich im ukrainischen Titel des Romans angekündigt. Dieser Titel, wörtlich übersetzt „Wertep. #RomanÜberDen Maidan“, verweist auf das ukrainische barocke Puppenspiel, das zwei Spielebenen aufweist: eine sakral-überhöhte und eine weltliche, derb-volkstümliche Ebene.

Im Roman verknüpft die Handlung das ober- und unterirdische Geschehen, den inneren und äußeren Konflikt, personifiziert in der Heldin Katja und ihrer Freundin Witka, die mit ihrem Führer Mark durch das unterirdische Kyjiw irren, während über ihnen Kämpfe toben. Dabei geht es unter der Erde eher um die Sorgen des Einzelnen für ihre Liebsten, während oberirdisch heldenhaft für die Revolution der Würde gekämpft und gestorben wird. Die getöteten Demonstranten werden später als „himmlische Hundert“ sakralisiert.

Olena Sa­char­tschenko: „Kämpferinnen“. Aus dem ­Ukrainischen und Russischen von Jutta Linde­kugel. Mauke, Jena 2024, 352 S., 24 Euro

Die dynamische Handlung wird aus der Perspektive einer Frau und Mutter und ihres Kindes erzählt, was die historisch einschneidenden Ereignisse in einem ungewohnten Licht erscheinen lassen. Olena Sachartschenko, die mehrere Kinder- und Jugendbücher geschrieben hat, versteht es, den verfremdenden Blick eines Kindes zu vermitteln, der von sinnlichen Wahrnehmungen der Ereignisse geprägt ist. Zugleich spiegelt diese Perspektive die Unsicherheit und zunehmende Angst der Erwachsenen. So findet sich neben emotionalen Bildern und dokumentarisch-kritischen Beobachtungen eine zum Teil ins Mythische gesteigerte Rätselhaftigkeit der Ereignisse. Die hybride Erzählweise trägt dazu bei, Raum und Zeit zu weiten, und erinnert an den magischen Realismus, der auch in der ukrainischen Literatur eine lange Tradition hat.

In die Handlung im ober- und unterirdischen Kyjiw ist zudem ein Erzählstrang als Erinnerungen der „Kämpferin“ Katja an ihre ­Studienzeit eingeflochten. Es ­handelt sich um die spannend erzählte Geschichte des angeblichen ­Suizids ihres Freunds Askold, damit ­verknüpft ist die balladesk erzählte Sage um eine Pauke, die im Kampf der Kosaken gegen Zar ­Peter I. zum Einsatz kam und im Ersten Weltkrieg verlorenging, dann aber in der Familie von Askold wieder ­auftauchte. Die Pauke ­symbolisiert nach Auflösung aller Rätsel (im ­Roman) die mythische Vereinigung von Vergangenheit und Gegenwart.

Die Vielfalt der Perspektiven verhindert ein Abgleiten in Revolutionskitsch oder Pathos

Die Vielschichtigkeit der Perspektiven, die Verflechtungen von hohen und niedrigen Beweggründen, der Weg durch Grauzonen menschlicher Motive und Emotionen bei allen Protagonisten, ganz gleich ob Berkut-Polizist, angeheuerte zivile Schläger oder Maidan-De­mons­tran­t/in sowie den Grenzgängern, die zwischen den Polizeikräften und Demonstranten changieren, verhindern ein Abgleiten in Revolutionskitsch oder Pathos. Mit seinen unterschiedlichen, teils gegenläufigen Perspektiven und einer gewissen Rätselhaftigkeit ist der Roman eine sehr lesenswerte Reflexion der Ereignisse, mit denen der russische Krieg gegen die Ukraine vor zehn Jahren begann.

Die Vielschichtigkeit des Romans zeigt sich auch in den sprachlichen Ebenen mit Ukrainisch, Russisch, Surschyk (einem ukrainisch-russischen Hybrid), die von Jutta Linde­kugel hervorragend in Deutsche gebracht wurden. Ergänzt wird der Band von einem Stadtplan und einem Glossar.

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