: Der größte müde Autor der Welt
Jetzt erstmals auf Deutsch zugänglich: In Ma Yuans Tibet-Geschichten haben die Erzähler oft ein gebrochenes Verhältnis zur Wirklichkeit
Von Hannes Becker
Einsteins Imagination hat die Imaginationskraft der Menschheit schon überstiegen. Vor ihm gab es bereits den ebenso bedeutenden Zhuangzi, und jetzt gibt es nur noch mich“, schrieb der chinesische Schriftsteller Ma Yuan in den 1980er Jahren. Zu diesem Zeitpunkt feierte der 1953 geborene Autor in der Volksrepublik China mit langen Erzählungen seine größten Erfolge, erregte die Literaturkritik und inspirierte Schriftsteller*innen wie Yu Hua und den späteren Nobelpreisträger Mo Yan, aber auch eine bis heute ihren experimentellen Stil pflegende Autorin wie Can Xue oder den noch immer kommerziell so erfolgreichen Wang Shuo. Mit der von Julia Veihelmann übersetzten Auswahl „Drei Arten, Papierdrachen zu falten“ sind Ma Yuans Texte jetzt erstmals auf Deutsch zugänglich.
Veihelmanns Auswahl macht die Vielseitigkeit von Ma Yuans – von der zeitgenössischen Kritik als „postmodern“ gelabeltem – Schreiben deutlich. Darunter sind formal kühne Prosawerke, die das Disparate des sprachlichen Materials herausstellen und durch Auslassungen, Wiederholungen, lose Enden die Kluft zwischen Erzählvorgang und erzähltem Geschehen betonen („Drei Arten, Papierdrachen zu falten“; „Die Verlockungen von Gangdisê“). Oder von einem feinen Gewebe aus literarischen Motiven und sprachlichen Echos zusammengehaltene Geschichten („Eine Fiktion“; „Unterwelt“), die geschlossene, faszinierende Welten präsentieren. Es gibt federleichte, popliterarisch anmutende Prosastücke, die von Ausflügen an den Fluss und dem Leben junger Bohemiens handeln („Die Flussgöttin von Lhasa“; „Der elegante Bohemien“). Fast allen Erzählungen gemein ist ihr Bezug zu Tibet, das in Landschafts- und Milieuschilderungen lebendig wird, die den Radiojournalisten verraten, als welcher Ma Yuan 1982 nach Lhasa kam.
Ein gebrocheneres Verhältnis zur Wirklichkeit offenbaren die Erzählerfiguren, von denen viele den Namen des Autors tragen und wie er Schriftsteller sind. Zwar sparen die meisten von ihnen nicht mit Selbstlob, Eigenschaften wie ihr „kräftiger“ Körper und „männlicher“ Bartwuchs, überragende Kochkünste werden erwähnt. Sobald es allerdings um ihre schriftstellerischen Qualitäten geht, herrscht ein zerknirschter Ton vor: „Ich denke, ihr werdet mir verzeihen, dass ich diese Geschichte nicht zu Ende bringen kann. Ich bin müde geworden“, hofft und verteidigt sich der Erzähler in der Titelgeschichte. „Ich kann nicht weiterschreiben, mir läuft das Wasser im Mund zusammen“, kommentiert der Erzähler seine Beschreibung eines Festmahls in „Die Flussgöttin von Lhasa“, und der Erzähler von „Eine Fiktion“ beklagt seine Unfähigkeit, von einer unmöglichen Liebe zu erzählen, mit den Worten: „Es gibt keinen nutzloseren Menschen als mich“.
„Unmögliche“ Erzählvorhaben bestimmen einen Großteil der Erzählungen. In vielen der Texte stehen erzähllogische Herausforderungen im Zentrum, wenn in „Drei Zeiten des Lebens in Lhasa“ von der Zukunft berichtet werden soll, oder wenn in dem vielleicht besten Text der Sammlung, der Erzählung „Eine Fiktion“, der Erzähler, aus der Psychiatrie heraus, vom Besuch einer Leprakolonie berichtet, der aufgrund zeitlicher Unstimmigkeiten eigentlich nicht stattgefunden haben kann. Die Herausforderung kann aber auch kultureller Art sein. Die lange Erzählung „Die Verlockungen von Gandisê“, Ma Yuans virtuoses signature-piece, mit der er 1985 berühmt wurde, ist ein pseudo-ethnologischer Reisebericht, der aus einer Vielzahl von Perspektiven vom Fund eines riesigen Schafschädels und von der Sichtung eines Schneemenschen im tibetischen Hinterland zu berichten behauptet, vor allem aber Vorurteile und exotische Projektionen der verschiedenen Protagonist*innen offenbart.
Ma Yuan: „Drei Arten, Papierdrachen zu falten“. Aus dem Chinesischen von Julia Veihelmann. Arco Verlag, Wuppertal, Wien 2023, 340 Seiten, 25 Euro
In ihrem kenntnisreichen und spannenden Nachwort weist die Übersetzerin auf den kolonialen Subtext des tibetischen Stoff- und Themenkreises in Ma Yuans Erzählungen hin. Die dominierende Perspektive aller Texte ist die von nach der Eroberung des Landes durch die VR China im Jahr 1950 nach Tibet eingewanderten Han-Chinesen, die ohne tiefe Kenntnis der Verhältnisse vor Ort das Abenteuer eines exotischen Lebens suchen. Die Erzählungen sind getragen von einem an heutige „westliche“ Diskurse äußerst anschlussfähigen Bewusstsein für Probleme kultureller Aneignung.
Den Leser*innen wird dabei durchgehend viel zugetraut. Sie werden vom Autor um Rat gefragt, erhalten Arbeitsaufträge und werden sogar um Feedback per Post gebeten. Andererseits wird keine der kulturellen Besonderheiten, von denen erzählt wird, als bekannt vorausgesetzt – was wiederum dem „fremden“ Blick der Erzähler auf Tibet geschuldet ist. Das macht es gerade „westlichen“ Leser*innen, die mit den Verhältnissen in China und Tibet unvertraut sind, leicht, einen Zugang zu den Texten zu finden. Vor allem sind es jedoch der lakonische, gut lesbare Stil und die literarische Vielfalt, die Spaß machen, und derentwegen Ma Yuans Erzählungen in ihrer vorzüglichen deutschen Übersetzung eine große Leserschaft zu wünschen ist.
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