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HistorikertagungEnde der Großerzählung

Wie kann man die Geschichte der Bundesrepublik beschreiben? In Tübingen haben jüngere HistorikerInnen nach neuen Wegen gesucht.

Demo gegen rechts vor dem Bundestag, Februar 2024 Foto: Stefan Boness/Ipon

Die Bundesrepublik ist eine freundliche, liberale Demokratie geworden. Seit 1990 ist sie ein Nationalstaat mit fraglos akzeptierten Grenzen, eine Republik mit stabilen Institutionen und fest vertäut in Europa. 1999, als die Republik 50 Jahre wurde, veröffentliche der linksliberale Historiker Axel Schildt den Essay „Ankunft im Westen“. Heinrich August Winkler beschrieb Deutschlands langen Weg nach Westen.

Diese Meistererzählungen identifizierten drei prägende Trends, die die erfreuliche Entsorgung der autoritären, völkischen Traditionen ermöglichten. Die Gesellschaft wurde liberaler, die Demokratie eröffnete Beteiligungschancen, Wohlstand und Konsum stabilisierten.

Man konnte sich bei so viel Ankunftsmetaphern schon damals fragen: Was kommt eigentlich nach dem Happy End? Mitunter hatte das Lob der geglückten Demokratie, zu der auch die (sehr späte) Bearbeitung der NS-Geschichte gezählt wurde, etwas Triumphales. Weltmeister bei Export, Vergangenheitsbewältigung und Demokratie.

Die Meistererzählungen (zu denen Werke von Eckart Conze, Ulrich Herbert und Edgar Wolfrum zählen) stehen am 75. Jahrestag der Bundesrepublik von verschiedensten Seiten unter Feuer.

Zu westdeutsch, zu männlich

Der Blick sei zu westdeutsch und männlich, die Fokussierung auf die nationale Geschichte angesichts der seit 1990 explodierten Globalisierung verstaubt, so die Kritik. Wer angesichts von EU und transnationalen Verbindungen nur die Bundesrepublik erzähle, verstehe auch die Bundesrepublik nicht mehr. Bei der Tagung „Sehepunkte im Wandel: Auf dem Weg zu einer neuen Geschichte der Bundesrepublik?“ stellte Co-Veranstalterin Sonja Levsen fest, dass nicht nur die Vergangenheit unsicher geworden ist.

Auch die Zukunft ist nicht mehr, was sie mal war. Die Ankunft im Westen war ein „Sehnsuchtsort der Bundesrepublik“. Wo will die Bundesrepublik 2024 ankommen? Der Erklärungswert der Demokratisierungserzählung ist fraglich geworden. Was ist die gefeierte Westbindung wert, wenn Trump und Le Pen regieren? Was die Stabilität des Modells Deutschland angesichts der Erfolge der AfD?

Eine kritische Frage lautet, was die Zeitgeschichtsforschung zum Aufstieg der Rechtsextremen zu sagen hat. „Die Meistererzählung von Winkler basiert auf einer falschen Prämisse: Der Nationalismus war nach 1945 nie verschwunden. Er hat sich nur gewandelt“, so Dominik Rigoll, der ein neues Konzept von Nationalismus skizzierte. Die Trennung in Nation (gut) und Nationalismus (böse) sei überholt.

Man müsse Beate Zschäpe und Angela Merkel, den aggressiven Neonazismus und das gedämpft Konservative, zusammendenken, so die provokante Formulierung. Rigolls Ansatz, Nationalismus als eigenständige Ideologie neben Konservativismus, Sozialismus und Liberalismus zu deuten, wirkt unausgereift, ist aber immerhin ein Versuch, die Erfolge der AfD nicht nur fassungslos zu bestaunen, sondern aus Kontinui­tätslinien der Bundesrepublik zu erklären.

Migration in den Meistererzählungen

Christina Morina widersprach dieser Ausweitung des Nationalismusbegriffs freundlich und entschieden. In dieser Verdachtskonstruktion verschwinde der Staatsbürger als Angehöriger eines demokratischen Kollektivs und souveräner politischer Akteur.

Die US-Historikerin Laura Stokes zeigt in ihrer bislang nur auf Englisch erschienen Studie „Fear of the Family“, dass deutsche Behörden den Nachzug von Familien von Gastarbeitern bis 1973 wohlwollend sahen. Familien würden, so das Kalkül, dafür sorgen, dass Migranten keine Beziehungen mit deutschen Frauen eingehen.

Ein rassistisches Bild, das NS-Ideen von Rassenreinheit assoziiert. Migration komme, so Stokes’ Kritik, „in den Meistererzählungen kaum vor“. Das ist angesichts der Tatsache, dass 2022 fast ein Drittel der Deutschen Migrationshintergrund hat, ein Manko.

Die Kritik an den Meistererzählungen beschränkt sich nicht auf deren Leerstellen. Claudia Gatzka, Co-Veranstalterin, legte eine generelle Blicköffnung nahe. Die Zeitgeschichte solle „die Bundesrepublik als Umwelt in systemtheoretischer Sicht“ betrachten. Also keine Zentralperspektive mehr auf Staat und Politik wie in den Meistererzählungen, dafür Beschreibungen von sozialen Subsystemen, von Ungleichheiten und Arbeitswelten, queeren und migrantischen Milieus. Keine Geschichte mehr, dafür Geschichten.

Alles so schön plural hier

„Die neue Meistererzählung ist: Es gibt keine Meistererzählung mehr“, so Franka Maubach. Es ist alles so schön plural hier. Das klingt gut, lässt aber eine entscheidende Frage offen: Ergeben lose verbundene Mikrogeschichten unter besonderer Berücksichtigung der Sprecherposition eine neue Erzählung? Wer braucht eine Zeitgeschichtsschreibung, die nur noch Puzzleteile liefert, die sich zu keinem Bild mehr fügen?

Die Debatte, ob man die altvorderen Meistererzähler mit jugendlichem Schwung vom Denkmal stürzen oder ignorieren will, plätscherte etwas leidenschaftslos dahin. Auch ob man eine um die Sichtweisen von Marginalisierten erweiterte neue Meis­te­r*in­nen­er­zäh­lung anstrebt oder deren Homogenisierungszwänge zweifelhaft findet, blieb diffus.

Einen frischen Luftstoß brachte Rüdiger Graf in den Selbstverständnisdiskurs: „Der Klimawandel wirft ein historio­grafisches Problem auf.“ Die Klimakrise ändere den Blick auf Zeitgeschichte radikal. Wo die Meistererzählungen Wohlstands- und Emanzipationsgewinne sahen, erkenne man heute Ressourcenverbrauch und CO2-Emission, die via Klimawandel anderswo radikale Freiheitsverluste auslösen.

Dass zum Beispiel Frauen und Jugendliche seit den 1970er Jahren verstärkt Auto fahren, seien Freiheitsgewinne gewesen – aber eben mit destruktiven Wirkungen.

So gesehen ist die Geschichte des Einkaufszentrums, das das Auto unabdingbar macht, ebenso erzählenswert wie die Entstehung des Badezimmers als Ort energieintensiver Körperpflege. Zeitgeschichtsschreibung fällt nicht nur die Aufgabe zu, die Schäden der individualisierten Konsumdemokratien zu bilanzieren. Sie muss klassisch politikzentriert kühl untersuchen, wie ökologische Steuerung funktionierte und woran sie scheiterte. In der Bundesrepublik und anderswo.

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1 Kommentar

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  • Die Wechselwirkung neuer Technologien (die Waschmaschine ermöglichte z.B. erst mit, dass nicht eine Person den ganzen Tag mit der Versorgung der Familie im Haushalt beschäftigt war) mit soziologischen und städtebaulichen Phänomen (autogerechte Stadtplanung) ist Thema der Techniksoziologie und Technikgeschichte (englisch auch gerne mal der Science Studies) seit Jahrzehnten. Die politischen Historiker:innen haben offenbar einiges nachzuholen. Schön, wenn immerhin das Problembewusstsein erwacht!



    Das macht hoffentlich auch die deutsche Migrations- und Rassismusdebatte leichter. Migration und Rassismus vermischen sich deutlich, wenn gefragt wird, wie deutsche Staatsbürger:innen aufgenommen wurden, die aus den Ostgebieten stammten, in der DDR sozialisiert waren, nach dem Krieg in konfessionell anders geprägte Regionen umzogen, wie Katholiken aus Italien, Jugoslawien oder Polen integriert wurden und wie sich das von Griechen, Türken etc. unterschied, nicht zuletzt, was Spätaussiedler:innen an Erfahrungen machten.



    Allen dürfte gemeinsam sein, dass sie nicht viel Land und Eigentumswohnungen geerbt haben, wie das bei vielen „Alteingesessenen“ im Nordwesten oft der Fall ist. Deutschland als Land der Mieter:innen und mit wachsender Ungleichheit lässt sich ohne diesen Teil der Migrationsgeschichte sicherlich nicht erklären, auch die gerade so heftige Angst vor Veränderungen wohl kaum.