Geplantes Sterben: „Ach, ich lebe so gern“
Wie plant man sein Sterben? Die 94-jährige Ursula Schütt konsultiert dazu regelmäßig ihren Arzt. In Workshops kann man die Art von Beratung lernen.
U rsula Schütt ist eine sehr wache, charmante alte Dame. Die 94 Jahre will man ihr kaum abnehmen, Anfang 80 wäre auch glaubhaft. Die Frau mit dem lässigen schneeweißen Kurzhaarschnitt spricht dezidiert, klar, lebenslustig frisch und hat auch nichts gegen ihren Namen in der Zeitung. Heute ist ihr Hausarzt Jürgen in der Schmitten, 57, zu Besuch in ihrem kleinen Zimmer im Pflegeheim Johanniter-Stift in Meerbusch-Büderich bei Düsseldorf.
Anliegen des Arztes: Möglichst genau herauszubekommen, welche medizinische Behandlung die Patientin Schütt im Fall einer ernsthaften Krankheit noch will, etwa nach schwerem Schlaganfall, bei Koma womöglich.
Und, ob sich ihre Meinung seit dem letzten Gespräch vor zwei Jahren geändert hat: Lebensverlängerung um jeden Preis? Mit vollem Apparateeinsatz? In der Schmitten will mit dem anstehenden Gespräch eine Hilfestellung geben, die weit über die bürokratischen Formulare einer Patientenverfügung hinausgehen.
Die Fragen und Nachfragen sind Teil von ACP, Advance Care Planning, deutsch: eine Behandlung im Voraus planen. Das Konzept will ermitteln helfen, die Wünsche und Bedürfnisse der Patienten genauer zu erkennen. Was will er wirklich? Was lehnt sie ab? Es ist der Versuch, so etwas wie den vorletzten Willen zu ermitteln.
Die Sicht aufs Leben ändert sich
Und das konkreter als bei einer schablonenhaften Patientenverfügung: einen Vordruck ankreuzen, unterschreiben, weglegen, fertig, das reiche nicht, sagt in der Schmitten. „Eine Patientenverfügung ist nicht wie ein Testament, das man einmal verfasst, sondern der immer wieder zu aktualisierende Ausdruck eines über viele Jahre fortgesetzten qualifizierten Gesprächsprozesses.“ Die Sicht ändere sich oft, sagt in der Schmitten. „Man muss die Menschen einfühlsam befähigen, autonom zu entscheiden.“
Einfach abfragen kann man Einstellungen zu so einem hochsensiblen Thema wie dem eigenen Sterbeprozess nämlich nicht, das wissen alle gewissenhaften Verantwortlichen im Gesundheitswesen. Dafür sind die Menschen zu verschieden, die Szenarien zu komplex, schwierig vorherzusehen und vorherzufühlen.
Jürgen in der Schmitten, Hausarzt
Schon gar nicht auf Dauer, denn Krankheitssituation und Lebenslust können sich gerade im Alter schnell ändern. „Es geht immer um Angst. Vor dem Tod. Vor einer Entscheidung. Und vor Fehlern“, hatte in der Schmitten vor dem Termin mit Schütt erklärt. Und prophezeit: „Frau Schütt wird sagen: Ich lebe gern.“
„Ach, ich lebe gern“, sagt Ursula Schütt dann auch gleich mit strahlendem Lächeln, „eigentlich geht es mir gut. Ich weine auch nicht mehr.“ Wie wichtig es ihr sei, möglichst lange zu leben, fragt in der Schmitten nach. „Ach, nicht nur morgen und übermorgen“, sagt Schütt, „ein Jahr bestimmt noch oder zwei, das wäre schön.“ Was ihr besondere Freude mache? „Das Essen hier ist gut. So viele kleine Erlebnisse. Die Spaziergänge. Aber ich habe keine Freunde mehr. Alle sind ja gestorben. Auch neulich die letzte Nachbarin aus Düsseldorf.“
Wo liegen die Restlebenswünsche?
Und schon sind wir mitten in der Ambivalenz. Der Arzt versucht sich stückweise vorzuarbeiten, was Schütt will und was nicht, wo ihre Ängste liegen, ihre Restlebenswünsche. „Wenn ich Ihnen sage, morgen früh werden Sie nicht mehr wach, Frau Schütt.“ Wie das wäre? „Ein schöner Tod, das wäre doch gut. Aber ich lebe so gerne.“
Was tun bei einem Unfall, „wenn Sie künstlich beatmet werden müssen, Frau Schütt? Notarzt, Intensivstation, sollen wir dann weitermachen oder Sie palliativ mit Medikamenten auf dem letzten Weg begleiten …?“
Jürgen in der Schmitten arbeitet außer in seiner Hausarztpraxis in Meerbusch als Professor an der Ruhruniversität Duisburg-Essen als Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin mit dem Forschungsschwerpunkt „patientenzentrierte Versorgungsforschung“.
Gemeinsam mit der Kollegin Kornelia Götze von der Uni Düsseldorf und einigen anderen hat er, auf Grundlage des Hospiz- und Palliativgesetzes von 2015, ACP in Deutschland aufgebaut und weiterentwickelt. Das Vorbild kommt aus den USA: „1993, ich war noch im Studium, wurde dort in der Medizinethik über Ongoing Conversation gesprochen“, sagt in der Schmitten.
Gesprächsübung mit Schauspielern
Fortgesetztes Reden also, eine ergebnisoffene Klärung: „Das hieß dann bald ACP. Der Königsweg ist es, Eltern und Kinder miteinander ins Gespräch zu bringen.“ Das können Eltern mit schwer kranken Kindern sein oder Erwachsene und ihre alt gewordenen Eltern.
Für PatientInnenen (oder solche, die es werden könnten) ist ACP ein freiwilliges Gesprächsangebot. GesprächsbegleiterInnen aus dem Gesundheitswesen erhalten nach Abschluss einer mehrtägigen Fortbildungsmaßnahme ein Zertifikat als qualifizierteR BeraterIn nach Paragraf 132 Sozialgesetzbuch. Prüfinstanz sind die Krankenkassen.
Szenenwechsel. In den Räumen der Diakonie Ruhr in Bochum werden ACP-Gesprächsbegleiter ausgebildet, auf ungewöhnliche Art. Das Setting: Drei Gruppenräume, darin je ein ausgebildeter ACP-Trainer als beobachtender Lehrer und je ein semiprofessioneller Schauspieler, der oder die eine Patientin oder einen Angehörigen spielen.
Dazu die Hauptpersonen: jeweils vier Lernende, quasi die SchülerInnen. Sie sollen einmal in ihren Einrichtungen Gesprächsbegleiter werden: Einige Pflegedienstleiterinnen sind dabei, eine Angestellte im AWO-Seniorenbüro, eine Hausärztin, einer arbeitet bei der Lebenshilfe; Alter querbeet. Vier Szenarien werden im Laufe des Tages zu je anderthalb Stunden durchgespielt.
Im ersten der vier Rollenspiele geht es um eine schwer demente Frau im Pflegeheim. „Jaaa, sie ist sehr unbeschwert. Und sie weiß immer noch, was sie essen will“, sagt bestimmt ihr emsiger und überaus fürsorglicher Ehemann Herr Schott, 87, gespielt von Paul Pape-Senner, 70. „Und sie singt auch noch so gern. Immer mittwochs. Komisch ist nur, dass sie immer weiß, wann Mittwoch ist …“
Rätsel Demenz: Was empfindet, versteht, wünscht sich ein Mensch im fortschreitenden Dämmern und Vergessen? Und was will er oder sie, wenn es um die letzte Pflegephase geht, um vielleicht große medizinische Eingriffe? Laut aktuellen Erhebungen haben selbst unter HeimbewohnerInnen in Deutschland nur 40 Prozent zumindest eine herkömmliche Patientenverfügung.
„Nein, eine Patientenverfügung gibt es nicht“, sagt der Ehemann-Mime Schott, „ich war immer ihr Anker, sie braucht mich doch.“ Und er braucht wohl auch sie: Offenbar will er alles für sie tun, möglichst lang, weil er nicht loslassen will, also auch lebensverlängernde Maßnahmen wünscht.
Trainerin Annika greift ein: „Versucht mal mehr auf Zwischentöne zu hören.“ Ehemann Schott: „Sie ist schon sehr auf mich fixiert.“ – „Aber was würde sie wohl sagen?“ Etwa bei dauerhafter Bettlägrigkeit? „Das wird sie nicht haben wollen. Vielleicht ist ihre schwere Demenz auch ein Segen, da hat man keine Sorgen mehr …“
Ein wohliger Hauch von Gestern
Herr Schott erzählt dann, dass die beste Freundin seiner Frau einmal einen schweren Radunfall hatte, Folge: Intensivstation, Schläuche, Maschinen. „Das wollte meine Frau nie erleben, das musste ich ihr versprechen.“ Er bleibt unentschlossen: „Ich will ja nicht, dass sie leidet. Ich will auch nichts Falsches entscheiden.“ Er ist verzweifelt, wischt sich die Augen. Gut, sagt er dann, Krankenhaus ja, natürlich, sagt er, aber nicht Intensivstation, „und keine Schläuche!“
Eine Frau aus der Runde sagt nachher: „Ich habe mich ständig aufs Glatteis geführt gefühlt mit meinen Fragen, immer unsicher.“ Die anderen widersprechen: „Du warst sehr authentisch.“ Und Paul Pape-Senner: „Ich fand die Fragen sehr einladend, sorgfältig und nachdenklich. Ihr seid doch etwas weitergekommen.“
Die Seminarräume in der Bochumer Diakonie sind evangelisch nüchtern, außer Raum 3, der heißt „Gute Stube“: An den Wänden hängen ein paar ältliche Relikte aus der Nachkriegszeit, Bilder und ein rot-gold gemusterter Teppich, davor Kommode, ausladender Holzschrank, eine verschnörkelte Standuhr –, halt ein wenig Gelsenkirchener Barock in den Bochumer Ecken. Um den Alten aus dem Pflegebereich im Nebenhaus einen wohligen Hauch Gestern vorzuspielen. Schräg strahlt die Wintersonne durch die Fensterfront.
Hier gibt Schauspielerin Brigitte Keldenich-Bergstein, 71, eine fiktive Frau Hamberger, gesetzliche Betreuerin ihres Ex-Ehemannes, von dem sie seit vielen Jahren glücklich getrennt ist. Danach vegetierte er erst schwer alkoholabhängig in seiner Messiewohnung und lebt jetzt nach mehreren Schlaganfällen unansprechbar als krankes Wrack in einer Pflegeeinrichtung. „Man hat mich damals gefragt, ob ich das Kümmern nicht übernehmen will. Wir hatten ja ein schönes Leben, als wir jung waren. Und er hat ja sonst niemanden …“
Ihre Rolle: bedrückt, unsicher. „Wie geht es Ihnen mit der Verantwortung?“, fragt eine Teilnehmerin. Hamberger stockt, ist offenbar von schlechtem Gewissen gepeinigt und sucht merklich nach einem Ausweg aus dem Gespräch. Kurzes Schweigen. Die Trainerin ermuntert die vier werdenden ACP-GesprächsbegleiterInnen: „Nur zu, als Gesprächsbegleiter hat man auch Verantwortung.“
Was tun im Notfall, ist hier die entscheidende Frage im Hintergrund. „Wenn wir nichts machen“, sagt Frau Hamberger, „dann stirbt er und ich hab den umgebracht.“ Sie scheint überfordert. Was er wohl antworten würde, fragt eine. „Macht doch, was ihr wollt, wird er sagen“, kommt jetzt sehr bestimmt, „und am liebsten hinterher: Ich will aber erst noch ein Bier.“
Da müssen alle lachen. So ernst das Thema Tod sein mag, einmal habe eine alte Dame, erzählt einer, auf die Frage nach Wiederbelebung gesagt: „Nein danke, ich will nicht zweimal sterben müssen.“
Nachher sind alle etwas unzufrieden. „Ich bin richtig erschöpft“, sagt eine Kursteilnehmerin, „das war eine Gratwanderung“. Sie sei sich so unsicher gewesen zwischen dem Gefühl, aktiv Fragen anbieten zu müssen – und gleichzeitig sei da die Angst gewesen, Frau Hamberger zu beeinflussen. Die Trainerin: „Ihr hättet auch fragen können: Lebt der Mann denn wohl noch gerne? Indizien suchen.“ Oder offensiv fragen, ob Herr Hamberger den Tod „vielleicht als Erlösung empfinden würde“.
Hochzeit mit 80
Ursula Schütt, die wache 94-Jährige im Meerbuscher Pflegeheim, erzählt bei dem Besuch von in der Schmitten die Geschichte, wie sie nach zwei missglückten Ehen mit Ende 70 eine Zeitungsanzeige „in so einem Käseblatt“ aufgegeben hatte: Mann gesucht.
Es meldete sich Harry, ein Volltreffer. „An meinem 80. Geburtstag haben wir geheiratet.“ Spätes Glück: „Wenn Harry mir bei einer Erkältung die Hand hielt, war ich schon fast geheilt“, strahlt Schütt. Harry wurde indes dement und starb vor fünf Jahren. „Es waren wundervolle zehn Jahre. Und jetzt reden wir übers Sterben“, seufzt sie.
Workshop-Teilnehmerin
Jürgen in der Schmitten lenkt das Gespräch auf Notfallsituationen: Plötzlicher Herzstillstand, ob Ursula Schütt in dem Fall eine Wiederbelebung wolle? „Als Arzt muss ich Ihnen dazu sagen, dass Sie mit ihrer Herzschwäche bei Reanimation als 94-Jährige weniger als zehn Prozent Chance haben, dass alles wieder so wird wie vorher.“ Schütt sagt: „Nein, wofür dann?!“ Es klingt energisch. „Das lohnt doch nicht. Mein Mann lebt ja auch nicht mehr. An seinem Grab hab ich gesagt: Harry, hol mich.“
Der Arzt geht einen Schritt zurück: „Und wenn ihre Lungen nicht mehr richtig mitmachen, Frau Schütt, würden Sie Beatmung mit Unterstützung wollen, also mit Maske?“ – „Ich will alles ohne Schmerzen. Aber nicht Krankenhaus, Intensivstation …“
Manöverkritik im Bochumer Seminarraum. Immer wieder ist von „irrer Verantwortung“ die Rede, von „tricky Situationen, nicht in eine naheliegende, einfache Lösung zu laufen“. Man müsse, sagt einer, so was wie „Geburtshilfe leisten bis zu einer Entscheidung“.
An einer Pinnwand haben die Kursteilnehmenden niedergeschrieben, was Entscheidungen beeinflussen könnte: Viel ist von Ängsten und Unsicherheit die Rede, bei Angehörigen von drohenden „eigenen Interessen (Erbe)“. Oder: „Persönliche Werte können im Weg stehen.“
Danach stehen weitere Rollenspiele an. Die Fälle sind übrigens, bis auf Nuancen, alle authentisch irgendwo mal so vorgekommen. Allmählich wird klar, dass die Rollenspiele nicht auf eine endgültige Lösung zusteuern müssen.
Die SchauspielerInnen reagieren wie beim Improtheater auf möglichst zielgenaue Fragen, Vorgaben, Hinweise, um sich ihrer Rolle entsprechend zu äußern. Lernziel der angehenden Gesprächsbegleiter ist es, weitestmöglich in die oft widersprüchlichen, manchmal angstbesetzten Seelentiefen vorzudringen.
Im nächsten Fall geht es um „Gretel“. Die ist seit Geburt geistig behindert, heute 78. Ihr früherer Nachbar, der „Herr Schmitz“ genannt wird und sehr selbstbewusst und großmäulig auftritt, hat seit dem Tod von Gretels Mutter vor 25 Jahren eine Vollmacht. „Gretel arbeitet doch mit solcher Hingabe in der Küche ihrer Einrichtung. Sie fühlt sich da unentbehrlich.“
Die sensibel nachbohrenden ACP-SchülerInnen bekommen bald heraus: Er hat offenbar mehr Angst vor ihrem Tod als Gretel selbst. „Bei Wiederbelebungsmaßnahmen würde sie wahrscheinlich noch in der Ohnmacht Panik kriegen.“
Der verantwortungsbewusste Herr Schmitz erklärt beiläufig, er wolle alles auch deshalb schriftlich genau fixieren, damit niemand vom Amt hereinpfuschen könne, falls er, Schmitz, vor Gretel stirbt. Über die „gesetzlichen Vertreter von Amts wegen“ hatte sich schon in der Mittagspause eine kleine Debatte entzündet. Die springen ein, wenn es keine Vertretungsvollmacht und keinen klaren Willen gibt.
Viele haben mit AmtsvertreterInnen offenbar wenig gute Erfahrungen gemacht. Eine Frau widerspricht: „Ich habe da aber auch schon sehr engagierte Leute erlebt.“ Nachsatz: „Aber die sind sehr selten.“
Lügt sie sich was in die Tasche?
Patientenschauspielerin Eva Senner, 68, gibt zum Finale „Frau Groß“, die für sich einen Beratungstermin erbeten hatte. Lebendig und abgeklärt erzählt Groß von ihrem Leben als Tänzerin und jetzt Fotografin, wie gerne sie lebe und reise. Angst vor dem Sterben? „Och nein. Ist doch spannend zu sehen, was da kommt.“ Lebensverlängernde Maßnahmen im Notfall? „Gar nichts.“ Aber zumindest Antibiotika bei schwerer Lungenentzündung? „Nee, ich hatte doch ein schönes Leben.“ Ihr Motto: Wenn es so weit sei, dann sei es so.
Schnell haben alle in der Runde das Gefühl, diese lebenslustige Frau lügt sich was in die Tasche. Und haken nach. „Früher“, stockt Groß, „wäre das anders gewesen, da lebte Leonie noch, meine Frau …, vielleicht treffe ich sie ja wieder.“
Sie druckst. „Manchmal denke ich, es ist nicht okay zu leben, während Leonie … Ich hab ihr damals das Versprechen gegeben, wir werden uns bald wiedersehen.“ Ihre Augen werden feucht. Da ist also eine Mischung aus schlechtem Gewissen und verbotenem Egoismus. Ob es Leonies Wunsch wäre, fragt eine Kursteilnehmerin leise, dass sie so leicht hinterher wolle? Groß zögert.
Hier will jemand angeblich keine Hilfe, in Wahrheit ist es umgekehrt – anders als in den vorigen Fällen. Zwei Kursteilnehmerinnen fragen jetzt sehr konkret nach: Was tun bei einem Herzstillstand, will sie wiederbelebt werden? Ja, sagt die ehemalige Tänzerin Groß plötzlich sehr bestimmt.
Selbstoptimierung? Der Arzt ist empört
Und bei Koma, wenn sie eine Fifty-fifty-Chance hätte, wieder gesund zu werden? „Die nehme ich.“ Eine Viertelchance? Kurzes Zögern. „Doch, auch noch.“ Das Herunterrechnen dient dazu, Grenzen festzulegen, wann eine Notfallhilfe enden möge. Bei einem Achtel sagte Groß dann auch: „Das wohl nicht mehr.“ Kurze Pause, dann: „Ich glaube, das alles wäre auch im Einklang mit Leonie.“
Viel Lob gibt es in der Analyse danach, weil die Kursteilnehmerinnen sich erfolgreich an Groß’ authentische Wünsche herangerobbt hatten, fast wie der Profi in der Schmitten bei Frau Schütt in Meerbusch. In Bochum lobte eine Teilnehmerin die andere: „Ich finde, Eva, du hattest so eine hochqualifizierte Leichtigkeit in deinen Fragen.“
Vereinzelt gibt es Kritik an ACP, gern gespeist aus der christlichen Denktradition. Der Hamburger Theologe Reimer Gronemeyer etwa hält es für anmaßend, aus dem Sterben ein „planbares Projekt“ zu machen, in dem „das moderne, selbstoptimierte Wesen glaubt, auch den eigenen Tod managen zu müssen“.
Jürgen in der Schmitten ist empört über solche Anmaßungen Dritter. Es gehe doch um nicht mehr als „die simple Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung“ statt des üblichen „Automatismus der Akutmedizin“.
Patientenverfügung überfordert
Er wundere sich bis heute, wie manche „davon unberührt bleiben können, dass tagtäglich gebrechliche, nicht selten demenzkranke Menschen auf Intensivstationen reanimiert und beatmet werden, um häufig dort oder kurze Zeit später doch zu sterben. Obwohl wir wissen, dass viele von ihnen das nicht mehr wollen würden, wenn wir ihnen Gelegenheit gäben, sich dazu zu äußern.“
Auch an den üblichen Patientenverfügungen lässt Jürgen in der Schmitten kaum ein gutes Haar. „Ohne qualifizierte Begleitung sind Menschen mit dem Erstellen einer Patientenverfügung vollständig überfordert – inhaltlich, aber vor allem auch emotional.“
Zudem würden in den herkömmlichen Formularen nur hoch spezielle Fälle wie Wachkoma oder das Schluckvergessen bei Demenz geregelt, „andere relevante Szenarien werden nicht thematisiert“. Die Vordrucke aus Ministerien, Ärztekammern oder Kirchen, so sein Vorwurf, seien „von Anfang an so konzipiert worden, dass sie in der klinischen Praxis nicht funktionieren sollen. Das ist wie der Hinweis an ein Kind: Du kannst jetzt gern dein Handy nutzen, aber erst wenn ich das WLAN abgeschaltet habe.“
Ursula Schütt, die 94-Jährige aus Meerbusch, sagt in der Schmitten, ohne ärztlich verschwiegen ins Detail zu gehen, sei natürlich nicht mehr so frisch wie sie wirkt, Herz und Lungen seien labil. „Ich habe heute wahrgenommen, dass sich ihre Ansichten etwas geändert haben. Unverändert sagt sie klar: keine Beatmung, keine Wiederbelebung. Aber vor zwei Jahren wollte sie in einer gesundheitlichen Krisensituation auch auf der Intensivstation behandelt werden. Diesbezüglich ist sie jetzt ambivalent.“
„Da haben alle geheult“
Es bleibe schwierig, sagt in der Schmitten, „eine solche Festlegung valide zu ermitteln“. Und das für die Pflegekräfte unmissverständlich in den Notfallbogen einzutragen. „ACP bleibt ein lebenslanger Prozess. Aber wir haben Glück: Frau Schütt kann sich gut artikulieren und sie lebt privilegiert in dieser guten Einrichtung.“
Aber: „Auch weniger gebildete Menschen, mit denen ich spreche, können sich häufig klar festlegen – nicht selten klarer als die Studierten.“
Der lange Tag in Bochum hat alle ziemlich mitgenommen. Schauspieler Paul Pape-Senner erzählt nach dem Seminar von seiner Gruppe, in der er den schwulen Ex-Tänzer Groß gegeben hatte: „Die Rolle hat ein gigantisches emotionales Potenzial. Bei mir saßen alle mit Taschentüchern in der Hand und haben ausnahmslos geheult, ich auch. Eine Frau hat gesagt: Was mach ich da? Ich hab doch noch nie in der Öffentlichkeit geweint!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene