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Album und Tour von Enter ShikariSchwämme, die alles aufsaugen

Eine Band wie ein eigenes Genre: Der britische Post-Hardcore-Vierer Enter Shikari veröffentlicht das neue Album „A Kiss for the Whole World“.

Alles Gute kommt von oben: Enter Shikari Foto: Paul Harries

Wer die ersten 40 Sekunden von „Bloodshot“ hört, käme niemals auf die Idee, dass sich hinter der britischen Band Enter Shikari, die mit dieser Single gerade zu Hause die größten Hallen füllte – und nun hierzulande Tausende zu ihren Konzerten locken wird –, eine astreine Rockgruppe verbirgt.

Gesangssamples, die angenehm an die Epoche des Bigbeat-Sounds um die Chemical Brothers erinnern, treffen Synthesizerpads, die einem David Guetta genauso gut ständen. Nur die grimmige Gitarre, die im Refrain die Metal-­Power­riffs anstimmt, vermag das Flair der großen Rockgeste zu versprühen.

Unsicherheit, was ihre Genre­zuge­hörig­keit anbelangt, kennen die vier Musiker der Band nur zu gut. Schuldlos sind sie daran gewiss nicht: Enter Shikari klingen schlicht und ergreifend nicht, wie sie eigentlich klingen müssten.

Ihre Fans danken es ihnen mit nun mehr als zwei Jahrzehnten Hingabe – und einer Prise Witz. Fragt man bei Konzerten oder in Fanforen nach dem Genre der Band Enter Shikari, lautet die Antwort: Enter Shikari. Die Band, die sich ihr eigenes Genre gebastelt hat?

Ein besonderer Schwamm

Enter Shikari

Enter Shikari: „A Kiss for the Whole World“ (So/Polydor)

Tour: 24. 2., Palladium Köln; 26. 2., Sporthalle Hamburg; 27. 2., Columbiahalle Berlin; 28. 2., Zenith München

Rou Reynolds, Komponist und charmanter Sänger, reagiert dar­ob geschmeichelt: „Ich schätze diesen zum Meme gewordenen Witz sehr.“ Die Vielfalt an Einflüssen, die man raushören könnte, habe sich natürlich ergeben, immerhin seien Menschen „wie Schwämme, die alles aufsaugen“.

Reynolds unterschlägt hier willentlich, dass er unter den vielen Schwämmen ein besonderes Exemplar ist: Als Siebenjähriger begann er Trompete zu spielen, nachdem ihm seine Oma Bigbandjazz nahegebracht hatte; sein Vater war Nor­thern-Soul-DJ, der Onkel begeisterte ihn für Dancepop à la KLF; dazu gesellten sich Britpop und später noch der Hardcorepunk der lokalen Szene. Das ist fraglos eine „breite Palette an Ins­tru­menten und Texturen“.

Diese Vorliebe für je unterschiedliche Musiken, Genres und Szenen brachte ihn 1999 mit zwei Mitschülern – Chris Batten und Rob Rolfe – zusammen. Man frönte dem Post-Hardcore von US-Bands wie At the Drive-In, am Horizont erschienen bereits Screamo, Emo- und Metalcore. Erweitert um den Gitarristen Rory Clewlow, nahm Enter Shikari 2003 die jetzige Besetzung an.

Bereits damals unterschied sich der Vierer fundamental vom Sound anderer Post-Hardcore-Bands; Genreüberschreitungen sind kein Produkt einer Entwicklung, sie waren von Beginn an in das Projekt eingeschrieben: „Unsere Musik klingt vielfältiger als die der Bands, mit denen wir über einen Kamm geschoren wurden“, erklärt Reynolds heute.

Die delikate Struktur von Songs wie „Today Won’t Go Down in History“, einem Cut vom Debütalbum „Take to the Skies“, 2007, samt seinen Synthieeinsätzen in der Melodie, „beweist, dass wir immer schon eigenwillig geklungen haben“. Die balladeske Nummer stellt gleichwohl eine Ausnahme im Werk der vier Künstler aus dem beschaulichen Städtchen St Albans dar. Bekannter sind sie für ihre flirrenden, ultradynamischen, bisweilen vertrackten und kaum zu bändigenden Songs.

Im Umland umschauen

Enter Shikari, benannt nach einem Schiff, das Reynolds Onkel einst besaß, wussten früh, dass sie nicht wie die Vorbilder klingen wollen, vielleicht auch gar nicht können; ihr Trick: Sie schauten sich in ihrem Umfeld nach passenden Einflüssen um. Und diese präsentierten sich in Form von Bass- und Breakmusiken aller Art.

Da waren Ragga, Drum’­n’­Bass, später auch Dubstep, jedes Genre auf eigene Weise typisch für Großbritannien – und mindestens so energiegeladen wie Rockmusik, die gleichsam Pate stand. Fortan pflegten Enter Shikari einen Hardcoresound, der von Grunts und Growls im Gesang geprägt ist.

Diese herben Vocalismen sind es auch, die im eigentlichen Sinne rocken, also zum Pogen einladen. Enter Shikari überlassen Bassflächen jedoch den elektronischen Gerätschaften und experimentieren mit trippelnden, Hochgeschwindigkeits-Hi-Hats des Jungle. „Rorys Bruder war Drum’n’­Bass-DJ. Das hat uns stark beeinflusst.“

Musik ist in der Klangwelt der Band immer ein Ergebnis von Amalgamierung – zumindest gute Musik! Neben dem Klangspektrum unterscheidet sich Enter Shikari noch in einem zentralen Punkt von ihren Kollegen: Kaum eine Band ist so politisch wie das Quartett. Haltung erschöpft sich derweil nicht in markigen Ansagen – oder einem coldplayhaften Signaling sogenannter richtiger Werte.

Es sind direkt alle Bereiche des Bandlebens, von der Bühne bis zum Privaten, die durch Aktivismus geprägt sind. Dabei fällt vor allem die textliche Komponente auf, da Rou Reynolds sein Songwriting dem Aktivismus unterwirft, was in Themen wie Klimawandel, Tierrechten und gesellschaftlicher Benachteiligung mündet:

Niemand schreibt heutzutage Songtexte wie Reynolds. Gleichwohl lesen sie sich nicht wie solche von Hannes Wader, sie kommen individual-mythologischen Ansätzen nah. Die Textwelten von Enter Shikari sind bevölkert von Oktopussen, vom Polarforscher Ernest Shackleton oder von Figuren, die unter der Last der Gegenwart zusammenbrechen.

Bei so viel Haltung, verwundert es, dass Enter Shikari mit dem aktuellen Album „A Kiss for the Whole World“ erst jetzt ihren ersten Num­mer-1-­Charts­erfolg zu Hause einfahren konnte. Das Eigenartige der Band macht sie zwar nicht leicht verdaulich, lässt sie dafür sehr gut altern.

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