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Wiederholung der BundestagtagswahlBlöd für Stahr, gut für die Grünen

Kommentar von Stefan Alberti

Dass die Grünen-Vorsitzende den Bundestag verlassen muss, ist ein Glück für ihre Partei. Denn die braucht sie als Chefin – was nur ohne Mandat geht.

Nina Stahr beim Grünen-Landesparteitag am 13. Dezember kurz vor ihrer erneuten Wahl zur Berliner Co-Vorsitzenden Foto: dpa

E s hatte schon etwas Skurriles, in den vergangenen Wochen mit manchen Politikern zu sprechen oder Interviews zu lesen. Denn hier und da schimmerte kaum verhohlen die Hoffnung durch, dass eine Parteifreundin aus einem Parlament fliegen könnte. Das ließe sich als übelste Missgunst oder sogar parteischädigend auslegen. Tatsächlich aber war diese Hoffnung von großer Wertschätzung und eben dem Streben nach dem Besten für die Partei getragen.

Die Partei, das sind die Berliner Grünen, die Frau, das ist die Landesvorsitzende Nina Stahr. Sie hat am Sonntag ihr Mandat im Bundestag verloren, in den sie erst vor weniger als zweieinhalb Jahren eingezogen war. Das lag nicht an ihr, nicht am schwachen Wahlkampf oder prozentual schlechten Ergebnis, sondern an der gegenüber 2021 eingebrochenen Wahlbeteiligung: An der Urne oder per Briefwahl stimmten nur 51 Prozent der Wahlberechtigten ab – 2021 waren es noch über 75 Prozent, also eineinhalb Mal so viele.

Das sorgte dafür, dass in der Gesamtrechnung mit den Wahlbezirken, in denen nicht neu gewählt wurde, am Ende weniger tatsächliche Stimmen zusammen kamen. Deren Zahl ist aber entscheidend, wenn es darum geht, das bundesweite Ergebnis einer Partei auf die Bundesländer aufzuteilen. 2021 erhielten die Berliner Grünen auf die Weise sieben Mandate.

Da sie drei Wahlkreise gewannen, konnten sie noch vier weitere Sitze über die sogenannte Landesliste besetzen. Der letzte davon ging an Stahr – und genau den mussten die Berliner Grünen nun wegen der gesunkenen Gesamtstimmenzahl parteiintern an ihre Parteifreunde in Nordrhein-Westfalen abgeben.

In der Fraktion ersetzbar, in der Landesspitze nicht

Das wiederum heißt: So blöd die Sache für Stahr selbst ist – die Grünen-Bundestagsfraktion wird dadurch nicht kleiner. Und für ihre Themen als Sprecherin für Bildung, Forschung und „Technikfolgeabschätzung“ sowie ihr anderes großes Feld, Familien und Kinder, dürfte sich in der 118-köpfigen Fraktion Ersatz finden lassen. Schlicht gesagt: Stahr ist dort entbehrlich – ganz anders als im Berliner Landesvorsitz.

Wie eine Nothelferin hatte sie Mitte Dezember erneut den Vorsitz übernommen, den sie Ende 2021 nach fünf Amtsjahren wegen ihres Bundestagsmandats abgegeben hatte. Denn die Satzung der Berliner Grünen beinhaltet unter Paragraf 18 weiter eine Festlegung aus den Anfangszeiten der Partei: die strikte Trennung von Amt und Mandat. Wer im Parlament oder in der Regierung sitzt, darf nicht dem Landesvorstand angehören. Bei den Grünen in Hessen etwa ist das gänzlich anders. Dort war ihr langjähriges Aushängeschild Tarek Al-Wazir sowohl als Parteivorsitzender wie Minister zugleich auch Landtagsabgeordneter

Das ist in Berlin ausgeschlossen. Und trotzdem wählten die Grünen Stahr trotz Bundestagsmandat im Dezember, wenn auch nur befristet bis Mai, erneut zur Vorsitzenden. Dass die Partei zu einem solchen Zugeständnis bereits war, zeigt besser als alles andere, wie dramatisch das parteiinterne Zerwürfnis war. Zur Erinnerung: Vorsitzende hatte eigentlich Tanja Prinz werden wollen, die auch eine Art Vorwahl beim Realo-Parteiflügel gewann. Beim Parteitag am 9. Dezember aber ließen die Delegierten sie mit großer Mehrheit durchfallen, und das drei Mal. Der Parteitag wurde unterbrochen, erst vier Tage später ging es weiter.

Unter den inzwischen 13.000 Mitgliedern fand sich in der Zwischenzeit niemand außer Stahr, dem die führenden Köpfe des Landesverbands es zutrauten oder zumuten konnten, jenen Platz in der Doppelspitze, der nach inoffizieller Absprache zwischen den Parteiflügeln den Realos zusteht. Für den linken Grünen-Flügel war Philmon Ghirmai unumstritten. Im Januar sagte Ex-Bundesministerin Renate Künast bei einem Parteitreffen in Schöneberg zum gegenwärtigen Zustand des Landesverbands: „Wir müssen das als Anlass nehmen, mit dem ganzen Rechts-links-Scheiß aufzuhören“. Aus ihrer Sicht muss die Partei „diese Flügelscheiße“ hinter sich lassen.

Intensivbehandlung und Reha stehen noch bevor

Stahr vorerst bis Mai zurück an die Spitze zu holen, war nur eine Art Notverband. Intensive Behandlung, Operation und Reha, um im Bild zu bleiben, stehen den Berliner Grünen noch bevor. In dieser Phase ist es für den Landesverband Gold wert, Stahr über den nächsten Parteitag im Mai hinaus als Vorsitzende halten zu können und nicht nach einer anderen, weit weniger erfahrenen Kandidatin suchen zu müssen.

Derjenige Grüne, der neben Stahr ansonsten verfügbar und für einen weiteren Führungsjob prädestiniert ist, kommt wegen des Frauenstatuts nicht in Frage: Ex-Finanzsenator Daniel Wesener, von manchen schon als Spitzenkandidat für die Abgeordnetenhauswahl 2026 gehandelt, war zwar auch schon mal Parteivorsitzer – aber in der Doppelspitze muss es nach den Grünen-Regeln mindestens eine Frau geben. Weil der zweite Platz schon mit Ghirmai besetzt ist, kann Wesener keine Alternative zu Stahr sein.

Ohne die 41-Jährige, die vor ihrer Zeit als Landesvorsitzende auch viel Erfahrung in der Bezirkspolitik sammelte und nun kommunal-, landes- und bundespolitisch beschlagen ist, sähe es darum schlecht aus für die Berliner Grünen. Die Not, viele gegenseitige Verletzungen in der Partei zügig und verlässlich behandeln zu müssen, ist einfach zu groß. So groß, dass für die Grünen gilt, was vor fast sieben Jahrzehnten schon die CDU auf Wahlplakate ihres damals 81-jährigen Bundeskanzlers Konrad Adenauer schrieb: „Keine Experimente.“

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Redakteur für Berliner Landespolitik
Jahrgang 1967. Seit 2002 mit dreieinhalb Jahren Elternzeitunterbrechung bei der taz Berlin. Schwerpunkte: Abgeordnetenhaus, CDU, Grüne.
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