kleine schillerkunde (13 und Schluss): Der Flor des Lebens
Friedrich Schiller, der philosophische Arzt, seine drei medizinischen Dissertationen und „Die Räuber“
Es war sicher eine Kränkung für den 20-jährigen Medizinstudenten Friedrich Schiller, als 1779 seine erste medizinische Dissertation „Die Philosophie der Physiologie“ abgelehnt wurde. Den Professoren der Karlsschule in Stuttgart missfiel Schillers offensichtliches „Vorurteil für neue Theorien“ und sein „gefärlicher Hang zum besser wissen“. Dieser kulminierte in der von den drei prüfenden Professoren als zu steil empfundenen These von der „Mittelkraft“, „die zwischen den Geist und die Materie tritt und beide verbindet. Eine Kraft, die von der Materie verändert werden und die den Geist verändern kann“, für Schiller mithin ein winziges, sich durch die Nervenbahnen bewegendes Wesen.
Schiller musste wegen dieser Ablehnung ein weiteres Jahr an der von ihm wegen ihres Kasernencharakters ungeliebten Hohen Karlsschule bleiben; ein Jahr, in dem „sein Feuer noch ein wenig gedämpft werden kann“, wie es Herzog Carl Eugen ausdrückte, das Schiller aber ausdrücklich der Praxis widmen sollte: Raus aus dem Vorlesungssaal und ran an das Krankenbett. Das wiederum wusste Schiller zu nutzen, konnte er so doch weiter Erfahrungen mit dem Körper machen, konnte er weiterhin Kenntnisse erwerben in der von ihm bevorzugten und auf Erfahrung und Beobachtung gründenden psycho-physiologischen Lehre vom Menschen: „Das genaue Band zwischen Körper und Seele“, schrieb er, „macht es unendlich schwer, die erste Quelle des Übels ausfindig zu machen, ob es zuerst im Körper oder in der Seele zu suchen sei.“
Allerdings fiel auch seine zweite Dissertation durch, die Schiller ganz in Latein geschrieben hatte und in der er sich vordergründig mit einem ausschließlich medizinischem Thema befasste: dem Unterschied zwischen entzündlichen und fauligen Fieberkrankheiten, „de discriminae inflammatoriarum et putridarum“, zwischen Entzündungen, Abszessen und der fulminanten Sepsis.
Nachdem die Prüfer diese Dissertation wegen ihres Tempos und ihrer Oberflächlichkeit zurückgewiesen hatten – sie glaubten, Schiller habe dafür zu wenig Zeit und Mühe verwandt – schlug Schiller eine dritte vor, die direkt an die erste anschloss und schließlich für seinen Abschluss im Dezember 1780 reichte: „Der Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“.
Der junge Schiller sah gerade in der Medizin, der zuliebe er die Jurastudien aufgegeben hatte, eine große Nähe zu der von ihm favorisierten Dichtkunst, ließ sich mit ihr doch wie mit der Dichtung den Geheimnissen des menschlichen Lebens am ehesten auf den Grund kommen. Es verwundert daher nicht, dass die Thematik aller drei medizinischen Dissertationen auch in den von ihm seit Jahren heimlich und des Nachts verfertigten Lost-Generation-Debüt-Schauspiels „Die Räuber“ mehr oder weniger verschlüsselt Eingang fand. Sie geben Hinweise darauf, wie Schiller in Zukunft arbeiten sollte, wie er Kontexte zwischen Leib und Seele, zwischen Materie und Geist herstellte, wie er sich vor allem als philosophischer Arzt verstand. Als solcher bekleckerte er sich in seiner nur kurze Zeit dauernden Tätigkeit als Regimentsmedikus nicht mit Ruhm, als solcher stellte er aber in seinen Stücken die psychologische Verhaltensänderungen seiner Figuren den rein somatischen Beschwerden immer voran.
Während man die Abhandlung über die verschiedenen Fieberformen als medizinische Metapher für die „Räuber“-Hauptprotagonisten Franz und Karl Moor lesen kann – der durchtriebene Franz steht für das faulige Fieber, der robuste, leidenschaftliche und nichtsdestotrotz irrlichternde Karl für das entzündliche – so ist Schillers dritte philosophisch-medizinische Schrift die Blaupause für die „Räuber“, nicht zuletzt weil sie selbst „Räuber“-Zitate enthält. Sie handele, so Schiller, unter anderem vom „geistigen Schmerz“, der „die Kräfte des Lebens in jene Mißstimmung“ bringt, die „den Flor des ganzen Nervengebäudes zernichtet, und alle Aktionen der Maschine aus dem Gleichgewicht bringt“.
So fragt sich Franz, wie er das Leben seines Vaters zugrunde richten kann, ohne selbst Hand anzulegen zu müssen: „Und wie ich nun werde zu Werk gehen müssen, diese süsse friedliche Eintracht der Seele mit ihrem Leibe zu stören? Welche Gattung von Empfindnissen ich werde wählen müssen? Welche wohl den Flor des Lebens am grimmigsten anfeinden?“ Und dann dekliniert er die Affekte durch: Gram, Furcht, Schreck, Jammer und so weiter, bis er in der Verzweiflung den richtigen gefunden zu haben glaubt, „Triumph, Triumph“, denn „des Zergliederers Messer findet ja keine Spuren von Wunde oder korrosivischem Gift“. Auch für Karl, „diese große verirrte Seele“ (Schiller) ließen sich einige solcher direkt auf Schillers Medizinstudium verweisende Zitate finden. Am Ende sind Franz und Karl eins geworden, eine große Figur, die die Dichotomie von Leib und Seele überwand, was Karls deprimierendes Resümee unterstreicht: „… da steh ich am Rand eines entsezlichen Lebens, und erfahre nun mit Zähneklappern und Heulen, daß zwey Menschen wie ich den ganzen Bau der sittlichen Welt zu Grund richten würden.“
ALEXANDER LEOPOLD
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