Berlinale-Film aus Costa Rica: Der geschlechtslose Körper
Sexualität und Wechseljahre: Der Film „Memorias de un cuerpo que arde“ schildert, worüber in Costa Rica nicht gesprochen werden darf.
„Dieser Film ist das Gespräch, das ich nie mit meinen Großmüttern führen konnte“, schickt die italienisch-costa-ricanische Regisseurin Antonella Sudasassi Furniss gleich am Anfang ihrem Film voraus. Sie hat drei Frauen im reifen Alter interviewt, die lieber anonym bleiben möchten, um offener reden zu können.
Sie sprechen sehr ungeniert über Themen, die bis heute tabuisiert sind, und nicht nur in Costa Rica, wo der Film spielt: Sexualität im Alter, Gewalt in der Ehe, Jungfräulichkeit, Wechseljahre, Selbstbefriedigung. Es ist viel die Rede von mangelnder Aufklärung, strikt katholischer Erziehung, Schuldgefühlen, Strafe.
Auf der Leinwand werden die drei Frauen von drei Schauspielerinnen in verschiedenen Lebensphasen verkörpert, im Abspann lediglich „Frau“, „junge Frau“ und „Mädchen“ benannt. Die verschiedenen Geschichten verschmelzen zu der einer einzigen namenlosen weiblichen Figur. Sudasassi bringt ihr Spiel zwischen Wirklichkeit und Fiktion schon in den ersten Einstellungen deutlich zum Ausdruck. Wir sind auf dem Filmset, die Schauspielerin (souverän unaufgeregt: Sol Carballo) wird noch schnell geschminkt, die Szene vorbereitet. Sudasassi schlägt die Filmklappe, die Fiktion beginnt.
Das Haus wird zum Zentrum von Raum und Zeit, links und rechts des langen, schmalen Flurs öffnen sich Türen und dahinter ganze Welten. Während wir weiter aus dem Off die Stimmen der echten Frauen hören, werden auf der Leinwand ihre Geschichten von Sudasassi virtuos in Bilder übersetzt. Die erzählten Situationen sind oft in langen, ununterbrochenen Sequenzen gefilmt, verschiedene Zeitpunkte manchmal simultan in derselben Einstellung dargestellt.
„Memorias de un cuerpo que arde“ („Erinnerungen an einen brennenden Körper“), Regie Antonella Sudasassi Furniss, Costa Rica 2024
23. 2.2024, 22 Uhr, Zoo Palast 2
24. 2.2024, 13 Uhr, Cubix 9
Nicht vergessen
Wir beobachten, wie die Frau aufräumt, alte Zierstücke abstaubt, Fotoalben und eingerahmte Bilder in die Hand nimmt. Die Erinnerungen haben einen Körper, sie sind Objekte, die man anfassen, umstellen und sogar manipulieren kann, was eine Versuchung, aber auch ein Risiko darstellt: Manches darf man einfach nicht vergessen.
17 Jahre lang musste eine der Frauen die häuslichen Vergewaltigungen des Ehemannes über sich ergehen lassen. Scheidung war zunächst keine Option. Während die junge Frau noch im Krankenhaus liegt, beschließt ihr Vater, das sei jetzt ihr Kreuz, sie müsse es ertragen, er habe ja schon längst gewusst, dass sie nicht den richtigen Mann geheiratet habe. Man fragt sich, wie diese Frauen solche nicht nur körperliche Brutalität überleben konnten. Und trotzdem, sie taten es.
Was Sudasassi brillant gelingt, ist die dokumentarische und die Spielfilmebene in Einklang zu bringen. Rückgrat des Films sind die Stimmen der drei Frauen, ihre wahren, ineinander verflochtenen Geschichten strukturieren die fiktionale Inszenierung. Dadurch entsteht eine Mischung aus tiefer Nähe zu den Protagonistinnen, aber gleichzeitig eine Art „Sicherheitsabstand“, vor allem, wenn die erzählten Erfahrungen fast unerträglich werden.
Als Kontrast zu diesen schweren Erlebnissen ist eine platonische Liebe, die mit 11 Jahren begann und noch 7 Jahre lang dauern sollte, zärtlich inszeniert: der erste Kuss, verkleidet in einem in Papier gewickelten abgelutschten Bonbon, lässt ein Junge dem Mädchen heimlich zukommen. Sobald sie es aufgeregt in den Mund steckt, ist es, als hätte sie seine Lippen zum ersten Mal berührt.
Sudasassi zeigt den weiblichen Körper mit seiner Sexualität und deren Höhen und Tiefen auf der Leinwand mit Natürlichkeit und Würde, bis sich die Grenzen des Geschlechts auflösen. Eine der Frauen fasst ihre im Alter endlich erlebte Befreiung zusammen: Im Tiefsten sei sie keine Frau, sondern einfach eine Person, ihr Herz und ihre Augen ohne Alter und geschlechtslos.
Frei von allen Nötigungen, die Frauen sowie Männer gezwungenermaßen akzeptieren müssen. Diese mutigen Frauen filmt Sudasassi nur vorsichtig, mit dem Rücken zur Kamera gewandt. Was ihre kraftvolle Botschaft aber keineswegs schwächt, sondern noch stärker und universeller macht.
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