Film über polnisch-belarussische Grenze: Eine Grenze überschritten
„Green Border“ ist einer der besten Filme der Regisseurin Agnieszka Holland. Bei polnischen Nationalisten ist er zugleich stark verhasst.
Polens Präsident Andrzej Duda hat eine klare Meinung zum Fluchtdrama „Green Border“ der polnischen Filmregisseurin Agnieszka Holland: „Nur Schweine sitzen im Kino“, kommentierte er den Filmstart im September 2023 in Polen. Den seltsamen Satz kennen in Polen alle, geht er doch auf die deutsche Besatzung 1939–1945 zurück, als in polnischen Kinos Propagandafilme der Nazis und die Wochenschau mit den „Siegen der Wehrmacht an allen Fronten“ liefen.
Die gereimte Warnung der polnischen Untergrundbewegung, „Tylko świnie siedzą w kinie“, hielt damals viele Polen davon ab, in den Lichtspieltheatern Abwechslung vom Besatzungsalltag zu suchen. Perfide und zutiefst verletzend ist Dudas Zitat vor allem deshalb, weil Holland die Tochter eines Holocaustüberlebenden und einer polnischen Widerstandskämpferin ist, die im Warschauer Aufstand 1944 für die Freiheit Polens kämpfte.
Agnieszka Hollands Film ist politisch engagiert. Die 75-jährige, vielfach preisgekrönte Regisseurin will Empathie wecken. Sie steht klar aufseiten von Amina (gespielt von Dalia Naous) und Bashir (Jalal Altawil), deren drei Kindern und dem Großvater (Mohamed Al Rashi). Die Familie will über die angeblich „sichere Belarus-Route“ aus dem zerbombten Syrien nach Schweden reisen, wo bereits Verwandte leben. Bashir ist ein Folteropfer. Dicke Narben ziehen sich über seinen Rücken.
„Green Border“. Regie: Agnieszka Holland. Mit Jalal Altawil, Maja Ostaszewska u. a. Polen/Frankreich/Tschechische Republik/Belgien 2023, 152 Min.
Vor den Taliban geflohen
Zu den Sympathieträgern gehört auch Leila (Behi Djanati Atai), eine rund 50-jährige Afghanin, die vor den Taliban flieht und in Polen Asyl beantragen will. Ihr Bruder war einst Ortskraft bei den polnischen Militärs in Kabul. Auf dem Flughafen von Minsk schließt sich Leila der Familie von Amina und Bashir an. Noch am Ankunftstag erreichen sie in einem von Schweden aus organisierten Fluchtwagen die „grüne Grenze“ zu Polen.
Doch diese erweist sich schnell als scharf bewachter Stacheldrahtzaun. Die Sicherheitskräfte des belarussischen Machthabers Lukaschenko treiben die Geflüchteten über diese „grüne Grenze“, prügeln wahllos auf sie mit ihren Schlagstöcken ein, rauben ihnen all ihr Geld und gießen das Trinkwasser ins Feuer.
Doch die Freude, endlich „in Europa“ zu sein, weicht rasch neuer Panik. Denn die polnischen Grenzschützer sind nicht viel besser. Statt ein geordnetes Asylverfahren einzuleiten, laden sie die Geflüchteten auf Lkws und treiben sie in illegalen Pushbacks zurück hinter den Stacheldrahtzaun nach Belarus.
Dort warten schon die Sicherheitskräfte Lukaschenkos auf sie, fahren nachts mit ihnen an eine andere Stelle, stoßen sie in den Schlamm und zwingen sie, unter dem Stacheldraht auf die polnische Seite zu kriechen. Es ist kalt. Sie müssen im Freien schlafen, wenige Tage später, sobald der polnische Grenzschutz sie gefunden hat, wiederholt sich das Drama.
Reingefallen auf Lukaschenko
So geht es oft Dutzende Mal hin und her. In kurzer Zeit werden aus den mit Daunenmänteln, dicken Lederjacken und bunten Rollkoffern eingereisten Asylsuchenden dreckige Clochards, die Regenwasser von den Nadeln der Bäume saugen, trotz Frostbeulen an den Füßen weiterhumpeln und allmählich begreifen, dass sie auf die falschen Versprechen des Lukaschenko-Regimes von der „sicheren Belarus-Route“ reingefallen sind. Doch ein Zurück gibt es nicht mehr.
Zwar helfen „AktivistInnnen“, die eigens aus ganz Polen in den Białowieża-Urwald kommen, ebenso wie einige polnische Grenzbewohner, mit heißer Suppe, Tee, neuen Handys, Powerbanks und frischer warmer Kleidung. Doch auch sie können nicht verhindern, dass Schwangere mitten im Wald Fehlgeburten erleiden und Männer an Unterkühlung sterben, weil sie sich vor Schmerzen durch die Stockschläge der Grenzschützer kaum noch bewegen können.
Bei einem erneuten Pushback flieht eines der Kinder von Amina und Bashir, schließt sich der ebenfalls flüchtenden Leila an, versinkt dann aber im tückischen Moor und stirbt vor ihren Augen. Zwar kann eine Aktivistin Leila aus dem Moor retten, doch schon bald wird sie wieder vom Grenzschutz an die Grenze zu Belarus gebracht. Ohne Brille, Geld und Handy ist sie allerdings hilflos. Ihre Spur verliert sich hier.
Holland weckt aber nicht nur Sympathie für die Geflüchteten, die alle eine eigene, meist tragische Geschichte haben, sondern versucht auch die Motive der Aktivisten, Ortsbewohner und Grenzschützer zu verstehen. Monate vor Drehbeginn fährt ihre Crew in den Białowieża-Urwald, führt Hunderte Interviews, wertet Dokumente aus, begleitet Aktivisten auf ihren gefährlichen Nachtpatrouillen durch das tückische Sumpfgebiet.
Ziviler Widerstand
Im Film ist es die Psychologin Julia (Maja Ostaszewska), die nach einem familiären Schicksalsschlag in die einsame Gegend kommt, um Abstand zu gewinnen, sich dann aber schnell einer Aktivistengruppe anschließt. Anders als sie wohnen die meisten Aktivisten nicht direkt an der Grenze, sondern kommen aus Idealismus, Abenteuerlust und dem Willen zum zivilen Widerstand für ein paar Wochen oder Monate ins Białowieża-Gebiet.
Die einen halten sich strikt an die Vorschriften, um Polizei und Grenzschutz keinen Vorwand zu geben, die Hilfsorganisation „Granica“ („Grenze“), die es auch in Wirklichkeit gibt, zu kriminalisieren, die anderen riskieren mehr, bringen Geflüchtete mit dem Auto aus der „Sperrzone“ an einen sicheren Ort, von wo auch sie ihre Fluchtroute individuell fortsetzen können. In Polen wie in den meisten EU-Staaten fällt das unter den Straftatbestand „Fluchthilfe“.
Dennoch findet Jula immer mehr Verbündete, die bereit sind, den weitgehend rechtlosen Asylsuchenden zu helfen. Sie verliert aber auch eine gute Freundin, die Angst um ihr luxuriöses Leben hat und lieber die Augen vor dem Leid in ihrer Nachbarschaft verschließt.
„Dienst am Vaterland“
Jan (Tomasz Włosok) ist einer der Grenzschützer, die die Geflüchteten „wie Tiere“ behandeln sollen oder „wie die Geschütze Lukaschenkos“. So bläut es ihnen im Film einer der Vorsitzenden ein. Jans Frau Kasia (Malwina Buss) ist hochschwanger, so wie einige Frauen unter den Geflüchteten, die durch die Treibjagden der belarussischen Sicherheitskräfte und der polnischen Grenzschützer Fehlgeburten erleiden.
Kasia kann nicht glauben, was die Tageszeitung Puls – leicht zu erkennen als Polens führende linksliberale Gazeta Wyborcza – über die brutalen und illegalen Pushbacks schreibt. Sie verteidigt ihren Mann, der so etwas „nie tun“ würde.
Der jedoch bekommt Zweifel an seinem „Dienst am Vaterland“, kann nicht mehr schlafen, beginnt zu trinken und erzählt ihr schließlich alles. Während sich seine Kollegen immer weiter radikalisieren, geht Jan den umgekehrten Weg und lässt Geflüchtete entkommen, wann immer sich die Gelegenheit bietet.
Hasskampagne von rechts
Im Epilog zeigt Holland eine ganz andere Situation. Es ist der 26. Februar 2022, zwei Tage nach dem brutalen Überfall Wladimir Putins auf die Ukraine. Tausende Geflüchtete, vor allem Frauen mit Kindern, überschreiten die Grenze zu Polen. Die Hilfsbereitschaft ist enorm – im Film wie in der Realität. Jan und andere Grenzschützer haben sich hierher versetzen lassen und helfen, wo sie nur können. Auch einige der Grenzaktivisten sind da.
Innerhalb weniger Wochen nimmt Polen als Erstaufnahmeland rund zwei Millionen ukrainische Geflüchtete auf. An der polnisch-belarussischen Grenze ändert sich nichts. Nur ein neuer Zaun steht jetzt dort, fünfeinhalb Meter hoch und mit Wärmebildkameras.
Politiker wie Justizminister Zbigniew Ziobro von der nationalpopulistischen Regierung unter Führung der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), die bis Oktober 2023 im Amt war, traten kurz vor der Premiere des Films eine Hasskampagne los: „Im Dritten Reich produzierten die Deutschen Propagandafilme, die Polen als Banditen und Mörder darstellten. Heute haben sie dafür Agnieszka Holland“, schrieb Ziobro auf Twitter.
PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński charakterisierte den Film in einer eigenen Pressekonferenz als „schändlich und widerlich“. Holland gebe mit dem Film „ihrem Hass auf die polnische Nation“ Ausdruck. Die Regisseurin, die schon 2023 bei den Filmfestspielen von Venedig den Preis der Jury für „Green Border“ erhielt, musste für die Premiere in Polen Personenschützer engagieren. Im Februar läuft der Film in mehreren Ländern Europas an.
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