Porträt des Autors Lukas Rietzschel: Osterklärer jenseits der Raster

Im Theater beschreibt Lukas Rietzschel einen AfD-Aufsteiger. In seinen Romanen positioniert er sich eindeutig, agitiert aber nie. Ein Porträt.

Porträt des AutorsLukas Rietzschel im dunklen Wollmantel

Analysen übler Zeiterscheiungen: der Autor Lukas Rietzschel Foto: Paul Glaser/dpa/picture alliance

Zur Premierenfeier von „Das beispielhafte Leben des Samuel W.“ begrüßte Intendant Daniel Mor­gen­roth ausdrücklich die angereiste Weltpresse. Schon vor der Uraufführung des Auftragswerks vergangene Woche schaute das deutsche Feuilleton auf das Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz und seine Zittauer Schauspielsparte im Dreiländereck an der Neiße.

Vor allem aber auf den noch nicht ganz 30-jährigen Autor Lukas Rietzschel. Erwartet wurde von ihm, der seit einem halben Jahrzehnt im Ruf eines Ostverstehers steht, eine theatralische Einstimmung auf das Schicksalswahljahr 2024.

Das enorme Medieninteresse spricht nicht nur für die Qualitäten des jungen Schriftstellers. Es signalisiert auch im Jahre 34 nach der deutschen Einheit einen unverändert hohen Erklärungsbedarf für das scheinbar so unberechenbare Verhalten der Ostdeutschen.

Warum zeigen sich diese Schlechtgelaunten so undankbar für die Segnungen des Westens? Warum entdeckten ausgelaugte West-Nazis nach der Wende hier neue Tummelplätze, warum infizieren Ostdeutsche mit apokalyptischen Wahlumfragen der AfD nun wiederum den Westen?

Erklärbücher wie Uwe Tellkamps „Der Turm“ stießen auf größte Resonanz im Westen. Jeder Ostdeutsche hingegen muss inzwischen ein Trotzbuch wie Dirk Oschmanns „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ gelesen haben. In keines dieser Raster passt Lukas Rietzschel.

Nachwendetraume, Gegenwartsfrust

Die Unbefangenheit, mit der er sich DDR-Prägungen, Nachwendetraumata und Gegenwartsfrust nähert, könnte die Redensart von einer Gnade der späten Geburt 1994 nahelegen. Gekoppelt mit genauer Beobachtungsgabe und der Selbstdisziplin, nicht den Missionar zu spielen, sondern auf Authentizität seiner Handlungsträger zu setzen. Dass er 2017 in die SPD eintrat und damit in seinem Wohnort Görlitz als einer der wenigen Sozi-Exoten gelten kann, wissen nur wenige und bemerkt erst recht kein Leser oder Zuschauer.

Rietzschel entstammt nicht der slawischen Minderheit der Sorben, wuchs aber in deren Lausitzer Siedlungsgebiet in Räckelwitz auf. Das Studium der Germanistik und Politikwissenschaft in Kassel erscheint wie ein Ausflug des Bodenständigen vor seiner Rückkehr in die Lausitz nach Kamenz und Görlitz. Mithin in eine von Brüchen besonders geprägte Region. Die Braunkohletagebaue fraßen 130 sorbische Dörfer, aber der Mythos Kohle begründet heute in der Region eine verbreitete Skepsis gegenüber der Klima- und Energiewende.

Solche mäandernden Linien lassen sich im kontinuierlich wachsenden Werk Rietzschels nachverfolgen. Wie und warum sind so viele Menschen zu „Fällen“ geworden, die uns heute in ihrer Totalverweigerung und Flucht in den Chauvinismus als Bedrohung der Demokratie erscheinen?

DAS BEISPIELHAFTE LEBEN DES SAMUEL W.

Szene aus der Theateraufführung „Das beispielhafte Lebend des Samuel W.“ in Zittau Foto: Pawel Sosnowski

Auch seine jüngste Zittauer Uraufführung folgt dieser Spur. Stellvertretend für die vielen zeichnet der Autor das Porträt eines AfD-Aufsteigers und seinen Werdegang. Er heißt im Stücktitel Samuel W., aber Einwohner werden in ihm unschwer den Polizisten Sebastian Wippel erkennen. 1982 in Görlitz geboren, wäre er beinahe Landrat und 2019 Oberbürgermeister in Görlitz geworden, sitzt aber weiterhin in der AfD-Landtagsfraktion.

Die Normalität ist das Alarmierende

Im Stück hat W. keine Rolle, tritt nur als lebende Plastik auf einem hinteren Podest in Erscheinung. Die stummen Gesten, die er in Slow Motion übt, könnten kämpferisch-heldische Posen sein oder an den kör­per­sprachlich-rhetorischen Unterricht Hitlers erinnern. Es sind Bürger wie du und ich in Unschuldsweiß, die vor spießig-alltäglicher weißer Kulisse über ihn berichten. Die Verhältnisse haben den eher zurückhaltenden Jungen Samuel, der bis heute kein Alphatier ist, zu einem AfD-Spitzenfunktionär gemacht. Ein durchschnittlicher Biedermann ist er geblieben.

Lukas Rietzschel hat für das Stück hundert Interviews geführt, einige davon wohl auch mit sich selbst. Nein, er verstecke sich nicht hinter den Interviews, dementiert der Autor und verweist auf deren künstlerische Bearbeitung und die Zitatauswahl. Im Briefkasten oder Mailfach erfahre er zwar Anfeindungen, lasse sich aber nicht beirren.

Fühlbar positioniert er sich, agitiert aber nie. Alarmierend erscheint nicht die Drastik, sondern die Normalität des Geschilderten. Buch- oder Stücktitel wirkten oft derber gewählt als der Inhalt, wie schon bei seinem preisverdächtigen Erstling „Mit der Faust in die Welt schlagen“. Oder beim in Leipzig auch als sehenswerten Theaterfilm inszenierten „Widerstand“, der eine depressive, traumatisierte Familie zeigt.

Lukas Rietzschel schreibt so, wie er auch bei persönlichen Begegnungen erscheint. Defensiv, immer zuhörwillig, umgänglich und nahbar, kein Selbstdarsteller. Der Kontrast zum nahezu doppelt so alten Kollegen Uwe Tellkamp konnte nicht größer sein, als beide im vorigen Herbst zu einem überhaupt nicht dialogischen Dialog in die Dresdner Frauenkirche geladen waren. Verbittert, hasserfüllt und geradezu autistisch ging Tellkamp lange weder auf sein Gegenüber noch auf die Moderatorin ein, spulte nur vorbereite Spottverse auf das System herunter. Rietzschel hingegen wirkte in seinem Bemühen um Anknüpfungspunkte geradezu seelsorgerlich.

Meister der Analyse

Sogar dann, wenn ihn etwas wirklich ärgert, platzt er damit nicht heraus. Nach der amerikanisierten, auf Show getrimmten Verstückung seiner „Raumfahrer“ in Cottbus beispielsweise, als er der Aufforderung zum Bühnen-Schlussapplaus nicht folgte und nur still sitzenblieb. „Raumfahrer“ ist ein subtiler Roman über den ihm vertrauten Kamenzer Raum und über die Brüder Kern, von denen einer als Georg Baselitz ein bekannter Maler wurde. Als solcher versucht sich Lukas Rietzschel ebenso mit einigem Erfolg, wenn er auch erst 2022 in Lübbenau zu seiner ersten Ausstellung kam.

Als Meister der Analyse und Anamnese von üblen Zeiterscheinungen erscheint er zugleich als sympathischer Anachronist. Seine Elterngeneration betreffend merkt man aber auch, dass er diese Zeiten nur aus Sekundärquellen kennt. Da kolportiert er manches, etwa die Doppelbelastung emanzipierter Frauen oder die angebliche Ausbeutung in der DDR betreffend, wo er doch zugleich von Zeitzeugen das „Beine hoch“ am VEB-Arbeitsplatz im Sinne des Spruchs „Privat geht vor Katas­trophe“ schildern lässt.

Aber auch das bewirkt Wiedererkennungseffekte bei alten und neuen Ostbürgern. Sollten jene den streitbaren Dichter Peter Hacks noch kennen, träfe dessen Gedichtzeile „Zwischen allen Stühlen sitze ich fest auf der Erde“ auf Lukas Rietzschel zu.

Das Feuilleton verkürzt ihn meist auf Erkenntnisgewinne über den codierten Osten. Darauf fixiert lauern wie vor der Zittauer Uraufführung viele Journalisten schon auf das nächste Evangelium nach Lukas. Doch dessen schon im jugendlichen Alter erworbener Horizont reicht inzwischen weiter. So sagt er im Programmheftinterview zum Privatisierungsgedanken des Neoliberalismus: „Der hat sich so internalisiert, dass er Staatsvertrauen auflöst.“

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