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Zukunft in Zeiten der DunkelheitDer Zug der Zeit

Lange haben wir dem Gang der Welt apathisch zugesehen. Aber Zukunft wird in jedem Moment der Gegenwart gemacht. So müssen wir sie auch betrachten.

Wie lässt sich Zukunft im Zeitalter der Dunkelheit herstellen? Foto: Elektrons 08/plainpicture

D er Zug der kommenden Zeit hat sich in diesem Jahr noch einmal massiv verstärkt. Eine ganze Weile, im Grunde seit den langen 1990er Jahren, herrschte im Westen der Welt ja diese eingebildete Windstille, die wesentliche Veränderungen einfach ausblenden half. Während sich also die Zeit vorwärtsbewegte, wie sie es eben so tut, blieben viele Menschen stehen; und da stehen sie immer noch, und merken wohl gar nicht, wie es sie nach vorne schiebt, einer Zukunft entgegen, die sich mehr wie eine Drohung anfühlt, denn wie ein Versprechen.

Was sich eröffnet, 2024 und darüber hinaus, ist eine Zeit der geplanten Katastrophen, der Zeitenbrüche mit Ansage, resultierend aus der Summe von Aktionen oder Unterlassungen der Vergangenheit: Die Zukunft ist damit nicht emphatisch oder mit einer positiven Ideologie oder Hoffnung unterlegt; sie ist eher das Sammelbecken dessen, was sich angekündigt hat, politisch, geopolitisch, wirtschaftlich, technologisch und klimatisch.

Für die Linke, im eigentlichen Sinn, ist das ein Problem, denn sie braucht diese Zukunftsemphase, um die Energie für Gerechtigkeit zu mobilisieren; für die Konservativen ist eine negative Zukunftsvision eher kein Problem, sie haben die Vergangenheit als Wärmekachel; und für die Rechte und Extremrechte, die immer stärker werden, ist die plausible Regression eine weitere Chance, denn ihr Geschäftsmodell beruht auf Angst und Vorteilen.

Wenn wir jetzt also auf der Schwelle von 2023 zu 2024 stehen, schauen wir von einem schlimmen Jahr hinüber zu einem weiteren schlimmen Jahr – und die Frage bleibt, wie sich Hoffnung, Widerstand und die Möglichkeiten, die in den gewaltigen Umbrüchen dieser Zeit stecken, nutzen lassen. Dazu ist es vielleicht notwendig, erst einmal den Schock zuzulassen, der 2023 war, und eine Art von Wachheit und Weichheit zu entwickeln, die nichts mit Schwäche oder Aufgeben zu tun haben.

Es geht um das Machen, das Tun

Im Gegenteil: In den Gesprächen etwa über Israel und Gaza, die Babyn-Jar-Haftigkeit dessen, was die Mörder der Hamas am 7. Oktober angerichtet haben, und dem folgenden Krieg gegen eine weitgehend hilflose Zivilbevölkerung in Gaza, der mehr und mehr zu einem generationendefinierenden Ereignis wird; in diesen Gesprächen habe ich gemerkt, was es bedeutet, die verschiedenen Wahrheiten, Biografien, offenen Wunden und offenen Möglichkeiten nebeneinander stehenzulassen; ohne Relativismus, aber mit Respekt.

So gelang es manchmal, Zugang zu haben zu einem Schmerz, der über die Person und den Moment hinausreichte; zugleich eröffnet sich hier, aus den Ruinen der Gegenwart, der Blick auf eine Zeit vor uns, in der ein Weg zum Frieden in diesem Land, Israel, nur schwer zu sehen ist. Was bedeutet es also, wenn sich die Fehler und Versäumnisse der vergangenen mindestens 30 Jahre nach vorne wenden? Was bedeutet es, wenn die Zukunft so verstellt ist?

Ganz anders – und ähnlich – verhält es sich mit der AfD, die 2023 einen Höhenflug begonnen hat, der Deutschland möglicherweise für längere Zeit verändert: Was bedeutet es, 2024 auf Wahlen zuzusteuern, nach denen Regieren womöglich nur noch mit Neofaschisten möglich ist? Was bedeutet es, wenn sich auf dem europäischen Kontinent rechtsextreme Regierungen auch mit Politikern wie denen der deutschen Ampel verbinden, um Fluchtfestungen gegen Menschen zu bauen? Wie lässt sich unter diesen Bedingungen Gerechtigkeit denken?

Und weiter gefasst: Wie ist hier der Generationenausblick? Wie lässt sich eine Zeit denken, die von Rechten und Rechtsextremen dominiert wird? Wie lassen sich die nächsten 10, 20, 30 Jahre abbilden? Wie verbindet sich regressives Abgrenzungsdenken mit den notwendigerweise kommenden Veränderungen, durch die Explosion von KI, durch disruptive Technologie? Wie verhält sich ein Kapitalismus, der seinen eigenen Faschismus erzeugt, wenn die Aporien allzu deutlich werden? Anders gesagt: Wie lange kann Ungerechtigkeit wachsen?

Noch einmal unterschiedlich weitet sich der Zeithorizont, wenn es um die Klimakatastrophe geht – der Blick senkt sich wahlweise zum Jahr 2030 oder 2035 hin, bis dahin müssen Energie, Bauen, Essen grundsätzlich anders geregelt sein, um das Schlimmste zu verhindern; selten geht der Blick weiter, bis 2050 etwa oder 2070, und die Frage, wie sich unter den Bedingungen von möglicherweise massenhaftem Sterben so etwas wie Gerechtigkeit denken oder umsetzen lässt. 2023 war hier ein weiteres sogenanntes Rekordjahr, was vor allem die Janusköpfigkeit dieses Wortes, Rekord, bezeichnet.

Wie lässt sich also diese dunkle Zukunft denken? Gar nicht, wäre eine mögliche Antwort. Aber das wäre ein Aufgeben in die eigene Regression, und ich glaube, dass Menschen eingehen wie Pflanzen, wie Gesellschaften, wenn sie sich von der Luft, der Sonne, der Zukunft abwenden. Wie lässt sich also, das wäre eine alternative Frage, Zukunft im Zeitalter der Dunkelheit herstellen? Denn darum geht es, glaube ich, mehr und mehr: um das Herstellen, um das Machen und Tun.

Das würde bedeuten, dass Zukunft keine Vorstellung ist, nichts Abstraktes – sondern im Gegenteil etwas sehr Konkretes, das sich in der Praxis ereignet, und zwar in so gut wie jedem möglichen Moment der Gegenwart. Es ist diese Praxis, die eine Arbeit gegen die Angst eröffnet und dem Schicksal einen Sinn für Solidarität entgegenstellt. Es ist diese Praxis, die verloren gegangen ist im Mahlstrom von Phlegma, Apathie und Passivität. Es ist diese Praxis, die wir wieder erlernen müssen.

Die Verdrängung der Zukunft in der Vergangenheit war programmatisch; die Erfindung der Zukunft in der Gegenwart ist genauso programmatisch. Es ist der Unterschied zwischen reaktionär und progressiv, zwischen rechts und links, zwischen autoritär und antiautoritär.

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