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Claudius Prößer ist widerwillig beim neuen Musical der BVG mitgefahren’ne halbe Station Richtung „Linie 1“

Ein Musical, das bei der BVG spielt? Mit fetzigen Songs und schrillen Typen? Klingt ganz schön nach die Achtzja, wie der Berliner so sagt – und unweigerlich nach dem Grips-Theater-Klassiker „Linie 1“ aus dem Jahr 1986. Ist es aber nicht. Jedenfalls nicht im Dezember 2023 im Admirals­palast an der Friedrichstraße. Da haben die Verkehrsbetriebe höchstselbst zum Schunkeln eingeladen: „Tarifzone Liebe“ heißt das 60-minütige Produkt, Uraufführung Montagabend, letzte Vorstellung Dienstag.

Eine Stunde mit Musik aus der Konserve, aber richtig echten SängerInnen, manche sogar auf Rädern? Wie kommt man auf so was? Ist doch klar, meint BVG-Marketingchefin Christine Wolburg, die zu Beginn vor den noch geschlossenen Vorhang tritt: „Das Zusammenleben in der Großstadt funktioniert nur, wenn wir das Gute ineinander sehen. Deshalb setzen wir in unserer Story ein Zeichen für Zusammenhalt und gegenseitige Akzeptanz.“

Tatsächlich handelt es sich um ein Weihnachtsgeschenk an all die Hardcore-Fans, die auch noch nach einem knappen Jahrzehnt #weilwirdichlieben jedes Wortspiel mit Schienen und Weichen als Kult bejubeln und sich bei jedem Coversong aufs Neue kringeln. Dass es davon genügend gibt, zeigt der an beiden Abenden ausverkaufte Theatersaal – und auch an den Bildschirmen, sprich: bei Youtube, schauen am Montag ein paar Tausend zu.

Aber wobei jetzt genau? Nun, der Plot geht mehr oder weniger so: Rund um einen sprechenden Ticketautomaten, der „Fahrausweisheiten“ zum Besten gibt („Kommt Zeit, kommt Fahrt“, „Alle Wege führen nach Mitte“), treffen ein paar skurrile Berliner Schnauzen auf lebendige Verkehrsmittel wie Bustav, Ulaf oder Tramara, die Straßenbahn. Letztere verliebt sich prompt in einen jungen Mann mit Hoodie und Ukulele, der, nun ja, „in ihr“ seinen Geldbeutel liegen gelassen hat.

Per Fahrtzielanzeiger will sie ihm ihre Liebe erklären, ihn aber hindert ein fieser Kontrolleur daran, Tramara auf der Suche nach seiner Brieftasche zu besteigen – pun intended, wie man in der Londoner Tube so sagt. Er nimmt fortan das Fahrrad, sie verlässt mit gebrochenem Herzen ihr Gleis, um sich nach Paris abzusetzen. Das bringt den gesamten ÖPNV, ja die Stadt durcheinander. Zum Glück begegnen sich Tramara und der Ukulelenjüngling dann doch noch an einer nächtlichen Haltestelle …

Was soll man sagen? Nach den neun von „Musical-Koryphäen und Profis“ (Wolberg) vorgetragenen Songs kann man eigentlich nur noch hoffen, dass der Wortspielgenerator der BVG jetzt endlich leer gelaufen ist – in Zeiten von ChatGPT ein wohl vergeblicher Wunsch. „Ihr nehmt einfach keine Rücksicht / darum zeig ich euch mein Rücklicht“, trällert Tramara aus ihrem gelben Kostümkasten, oder: „Mein Herz ist mein Getriebe / die ganze Energie fließt nur, weil ich ihn liebe“. Usw. usw.

Okay, ein paar nette Ideen sind auch dabei, zum Beispiel ein Beschwerdesong, in dem der Chor „zu spät, zu laut, zu dreckig / zu langsam, zu bunt, zu eckig“ singt und die berufsempörten KundInnen: „Ich fand nen Krümel in der Ritze / mein Pudel darf nicht auf die Sitze.“ Das geht gefühlt tatsächlich eine halbe Station in Richtung „Linie 1“, kommt dort aber natürlich nie an. Die Wilmersdorfer Nazi-Witwen, Bambi, Schlucki und die Rockband „No Ticket“ waren, sind und bleiben halt unsterblich.

Oder, um diese Fallhöhe mit einem auch nicht gänzlich ungelungenen Gag aus „Tarifzone Liebe“ metaphorisch zu beschreiben: „Wenn wir nichts unternehmen, endet das hier im Chaos“, schreit der Ticketautomat Bustav, den Bus, an. Der versteht die Aufregung nicht: „Also ich ende in Köpenick.“

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