Tödliche Radunfälle in Hamburg: Was tun?
In Hamburg starb Mitte November bereits der vierte Radfahrer in diesem Jahr durch einen abbiegenden LKW oder Bus. Der ADFC fordert strengere Auflagen.
Es ist bereits der vierte Unfall in diesem Jahr, bei dem Radfahrende durch ein abbiegendes Fahrzeug zu Tode kommen. Dabei sind so gut wie immer Lastkraftwagenfahrer:innen oder Busfahrer:innen die Unfallverursachenden.
Ende Januar wurde eine Frau in der Hafencity durch einen LKW getötet, während sie auf einer von der Stadt als besonders sicher beschriebenen Veloroute unterwegs war. Der LKW-Fahrer, dessen Fahrzeug mit einem nicht zugelassenen Abbiegeassistenten ausgestattet war, hatte die 34-Jährige nicht gesehen.
Anfang Juni dann der nächste Unfall, erneut mit einem LKW als Verursacher, der beim Rechtsabbiegen vom Veddeler Bogen einen 62-jährigen Radfahrer tödlich verletzte. Der LKW hatte keine Assistenzsysteme, die den Unfall hätten verhindern können. Ende August, erneut ein LKW ohne Assistenzsystem, der beim Abbiegen auf den Parkplatz eines Supermarkts einen 15 Jahre alten Radfahrer tötete. Später wurde klar: Der Lastwagen hätte aufgrund seines Gewichts nicht einmal auf den Parkplatz fahren dürfen.
Dirk Lau, ADFC
„Die Zahl der ums Leben gekommenen Radfahrenden ist im Vergleich zu den Vorjahren deutlich gestiegen“ erklärt Dirk Lau, Sprecher des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) Hamburg, im taz-Gespräch. Das belegen auch die Zahlen der Innenbehörde. So verzeichnete die Behörde in den Jahren 2021 und 2022 je einen tödlichen Abbiegeunfall mit Radfahrer:innen. Nun hat sich die Zahl der getöteten Radfahrer:innen bei Abbiegeunfällen, Stand November, vervierfacht. Der ADFC fordert „wirksame Maßnahmen zum Schutz von Verkehrsteilnehmer*innen, die keinen tonnenschweren Mantel aus Blech haben“.
Die Verantwortung für eine Implementation solcher Maßnahmen liegt zu einem Teil bei der Innenbehörde, die in Hamburg für Verkehrsunfälle zuständig ist, und zum anderen bei der Verkehrsbehörde. Auf die Frage, welche Maßnahmen die Stadt unternimmt, um Abbiegeunfällen vorzubeugen, antwortet die Innenbehörde der taz: Für eine Reduktion von Verkehrsunfällen „sind unter anderem Geschwindigkeitsreduzierungen und bauliche Veränderungen des Straßenverlaufes denkbar“. Dies sei insbesondere an Unfallhäufungsstellen der Fall.
Dirk Lau weiß, wie sich das Unfallrisiko an solchen Stellen reduzieren ließe. „Konfliktfreie Kreuzungsdesigns, getrennte Ampelschaltungen für die verschiedenen Verkehrsteilnehmenden, breitere Radspuren, Tempolimits“, sagt er, „um nur einige Maßnahmen zu nennen“. Auch wenn Radfahrende früher Grün bekommen und es markierte Flächen an Ampeln vor den wartenden Autos gibt, könnten Leben von Radfahrenden besser geschützt werden.
Für eine effektive Ursachenbekämpfung sei das allerdings nicht ausreichend, findet der ADFC. Eine physisch getrennte Verkehrsführung von motorisiertem und nicht motorisiertem Verkehr, wie sie etwa in Berlin an der Tangentialverbindung Ost als schwebender Kreisverkehr geplant ist, ist nur für wenige Kreuzungen und mit langer Planung realisierbar. Deshalb solle der Status quo mit realisierbaren Mitteln verbessert werden: „Kontrollen der Abbiegegeschwindigkeit passieren nicht häufig genug, so was muss regelmäßig überprüft und sanktioniert werden, um in die Köpfe der Gefährder zu gelangen“, fordert Dirk Lau.
17 Abbiegekontrollen habe es im Jahr 2023 gegeben, gibt die Innenbehörde an. Dazu seien weitere Kontrollen in den kommenden Wochen geplant. Bei Verstößen gegen die vorgeschriebene Abbiegegeschwindigkeit von 7 km/h für LKW drohen 70 Euro Bußgeld und ein Punkt.
Das Märchen vom toten Winkel
Das „Forum Verkehrssicherheit Hamburg“ hat wenige Tage vor dem letzten Abbiegeunfall einen „Perspektivwechsel“ angeboten – Radfahrende und Fußgänger:innen konnten sich in einen LKW setzen, um die Sichtverhältnisse von LKW-Fahrer:innen nachzuvollziehen. „Es ist skandalös, dass die Polizei bei solchen Aktionen immer noch das Märchen vom toten Winkel verbreitet, seit 2007 müssen Spiegel so ausgerichtet werden, dass es keinen toten Winkel gibt“, sagt Lau. Ebenfalls skandalös sei es, dass die Polizei 14 km/h für „Schrittgeschwindigkeit“ halte. Tatsächlich sind es maximal 7 km/h.
„Wenn wir nicht nächste Woche den nächsten toten Radfahrer beklagen wollen, brauchen wir jetzt wirksame Maßnahmen bis hin zu Fahrverboten für LKW ohne Abbiegeassistenten oder eine Beifahrerpflicht.“ Zwar hat Hamburg nach eigenen Angaben seit 2020 die gesamte städtische Nutzfahrzeug-Flotte von 1.500 Fahrzeugen ab 3,5 Tonnen für 3,5 Millionen Euro mit Abbiegeassistenten ausgestattet, jedoch machen diese Fahrzeuge mit 2,5 Prozent nur einen kleinen Teil der in Hamburg zugelassenen Nutzfahrzeuge aus. Abbiegeassistenten sind erst seit einem Jahr für neue LKW und Busse verpflichtend, ältere Modelle können freiwillig nachgerüstet werden.
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