: Untrennbar fürs Leben
„Meine geniale Freundin“ am Hamburger Thalia Theater erzählt die Geschichte zweier italienischer Freundinnen von den 1940ern bis in die 1990er. Das gelingt in der zweiten Hälfte vor allem als freie Textcollage gut
Von Jens Fischer
Eine beste Freundin zu haben, wäre prima. Als engste Vertraute für die tiefsten Geheimnisse, zum Teilen von Gemeinsamkeiten und Ausgleichen der eigenen Minderbegabungen. Als Anregerin, Mutmacherin, Bewunderin, Widerspruchsgeist, ja, vor allem als Dialogpartnerin in einer dialektischen Schicksalsgemeinschaft. Nur: So jemanden zu gewinnen, ist schwierig. Schriftstellerin Elena aber ist das anscheinend gelungen. Seit Kindertagen verbindet sie mit Lila eine innige Freundschaft, die aber auch herausfordernd kompliziert ist: durch eifersüchtige Konkurrenz – das Nacheifern-, Gefallen-, Besserseinwollen – und das Wechselspiel von Entfremdung und Wiederannäherung. Eine Freundschaft, an der beide wachsen.
Porträtiert ist „Meine geniale Freundin“ in einer epischen Familiensaga, die unter dem Autorin-Pseudonym „Elena Ferrante“ in den Buchhandel kam. Der vierte Teil des Romans, „Die Geschichte des verlorenen Kindes“, ist jetzt auf der Bühne des Thalia Theaters zu erleben.
Beiläufig pointiert erstreckt sich die Handlung mit erklärenden Rück- und Vorblenden von den 1940er- bis zu den 1990er-Jahren. Die brav strebsame Elena hat mit höherem Schulabschluss den Sprung aus einem Armutsvorort Neapels zu einer international gehörten Akademikerin geschafft: Aufstieg durch Bildung, konterkariert durch das Gefühl der Entwurzelung. Was Darstellerin Rosa Thormeyer überzeugend vielschichtig und viel lebenswilder auszudeuten weiß, als die Buchvorlage nahelegt. Die begabtere, furchtlos freche Lila (Anna Blomeier) musste für die Arbeit bei ihrem Schuhmachervater die Schule abbrechen und hat sich mit den Blutsbanden und starren Klassenschranken im Viertel ihrer Geburt durchgeschlagen.
Die beiden impulsiven Frauen sind Komplementärfiguren im Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung. Sie wollen sich befreien aus repressiven Rollenmustern und einem Gespinst aus Sexismus. Emanzipation von den patriarchalen, mit Gewalt manifestierten Strukturen der italienischen Gesellschaft ist das Ziel. Gleichzeitig gilt es, die Selbstbehauptung mit der Mutterrolle, inklusive chronischer Schuldgefühle, und der Abhängigkeit vom aktuellen Lebenspartner in Einklang zu bringen. Elena hat sich gerade von ihrem nett verhuschten Intellektuellengatten getrennt, um mit dem opportunistisch feigen, politisch nach rechts abdriftenden Macho-Bolzen Nino ein „perfektes Paar“ zu sein. Was ihre todkrank zynische Mutter-Matrone (Sandra Flubacher) höhnisch kommentiert – als Teil ihres bitterböse verzweifelten Kampfes, „nicht allein sterben zu wollen“.
Die beste Freundin als Wunschprojektion
Die Inszenierung von Ewelina Marciniak setzt trotz mehr als drei Stunden Spieldauer nicht wie die über 2.000-seitige Tetralogie darauf, Milieustudie zu sein und dabei ein historisches Gesellschaftspanorama als neorealistisches Neapel-Porträt aufzufächern und so auch Nachkriegs- als Universalgeschichte neu zu erzählen. Vielmehr wird in flotten Dialogen aus der explizit weiblichen Perspektive der Ich-Erzählerin Elena mit einem lustigen Quartett charakterblass narzisstischer Mannsbilder abgerechnet – als da sind neben Elenas Liebhabern noch der sich großkotzig gebärdende Michele aus dem das Viertel beherrschenden Camorra-Clan und Lilas kindlich naiver Softie-Gatte. Das alles lässt sich amüsiert weggucken wie eine TV-Serie.
Aber dann gibt’s ein Erdbeben am Fuß des Vesuvs im Bühnenhintergrund. Nicht nur Bücher stürzen aus Regalen und Möbeln zusammen, auch die bisher eher schlichte Regie will jetzt mehr als nur einen Bestseller nacherzählen. Die Aufführung wird reflexiver und um neue Theatermittel bereichert. O. K., Situationen verstummen zu lassen und in kurze Choreografien zu übersetzen, gelingt nur höchst oberflächlich, und ein Faustschlag in Zeitlupe ist lediglich ein optischer Gag.
Aber es kommen nun auch kurze Monologe zu Gehör, die politische und soziale Debatten des ausgehenden 20. Jahrhunderts aufleuchten lassen. Da jetzt alle Figuren entwickelt und präsent sind, gelingt der Wechsel vom psychorealistischen Spiel zum viel reizvolleren Arrangement einer fluiden Textcollage. Das Ensemble spricht in frei flottierenden Formationen. Die verbalen Äußerungen und ihre körperlichen Ausformulierungen eröffnen emotionale und intellektuelle Untergründe des Beziehungsgeflechts in dem Stück.
Auffällig ist, dass Elena überdeutlich Raum einnimmt, Lila als Antagonistin und beste Freundin fast zum Sidekick reduziert wird. Was final aber als Regiekonzept überzeugt: Elena wird bei einer moderierten Lesung in einen Diskurs über die Fiktionalisierung ihrer Lebensrealität verstrickt – mit dem Vorwurf, sie beute ihr soziales Umfeld literarisch aus. In die Enge gedrängt, fragt sie nach Lila. Und erntet ratloses Kopfschütteln. Lila scheint kein Vorbild in der Wirklichkeit zu haben, sondern von Elena ausgedacht zu sein. Einerseits als weitere Möglichkeit ihrer selbst, wenn einige Entscheidungen für die Entwicklung ihrer Identität anders gefallen wären. Andererseits als Wunschprojektion. Weil sie eine beste Freundin braucht, um sich herauszufordern, hat sie sich eine erfunden.
So gewinnt der Theaterabend noch eine Position, da er etwas verdeutlicht, was die Vorlage nur als Möglichkeit andeutet: Elena und Lila sind zwei Seiten einer Figur – als beste Freundinnen fürs In-der-Welt-Sein.
Meine geniale Freundin: wieder am Di, 14. 11., 19.30 Uhr, Thalia Theater, Hamburg; weitere Termine: 28. 11., 9. 12., 10. 12., 25. 12., 28. 12.
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