Die Kunst der Woche: Das „Nichts“ am Horizont
Spaziergang mit Echse, Warten auf Baldessaris Knie und übertippte Schhreibmaschinenblätter: diese Woche steht die Komplexität des Porträts im Zentrum.
W er malerisches Können schätzt, das ideenreich mit einem gewissen ketzerischen Witz gegenüber dem bekannten Kanon auftritt, sollte sich die Ausstellung von Tora Aghabayova ansehen. Die 1979 geborene Künstlerin absolvierte ihren Master of Fine Arts an der Azerbaijan State Academy of Art in Baku. 2011 kam sie nach Berlin, wo sie in einem Atelier im Kunsthaus Bethanien arbeitet.
„Allegory of a Stranger“ ist der Titel ihrer ersten Einzelausstellung in Berlin in der Galerie Under the Mango Tree. Der fabelhafte Fremde begegnet uns dort in Gestalt eines molligen Mannes mit Fischschwanz, der – insofern er mehr nach Meerjungfrau als nach einem Wassermann ausschaut – ein wenig „queer“ zu seinem mythologischen Vorbild steht.
In einem postsowjetisch neosurrealistischen Ansatz setzt ihn Tora Aghabayova in „Swing“ (2023) à la Fragonard auf die Schaukel, die freilich als dicker schwarzer Schwimmreifen tief im Dschungel hängt, oder sie platziert ihn dort in „Peace Agreement“ (2023) inmitten wilder Tiere wie Tiger und Echsen.
In beiden Fällen beschwört die Künstlerin nach eigener Aussage die Möglichkeit einer Versöhnung mit den Ängsten und Schwierigkeiten, in der Gesellschaft als anders und fremd wahrgenommen zu werden. Tatsächlich könnte man ihre Gemälde auch als autofiktional bezeichnen. Die Einsamkeit der im Dämmerlicht versinkenden Landschaften mit ihren leeren Straßen in der wunderbaren Serie „Nichts“ kann als die Einsamkeit der Künstlerin in der Hauptstadt gelesen werden.
Aber sie versteht es, sich eine interessante, vielleicht sogar gefährliche Gesellschaft zu erfinden, und gemalt als perfekte Edward-Hopper-Frau schreitet sie, begleitet von einer großen Echse, über die leere Landstraße dem Horizont entgegen.
Komplexe Erinnerungsarbeit
Das Unterfangen, sich künstlerisch mit den eigenen Ängsten und Schwierigkeiten auseinanderzusetzen und am Ende womöglich zu versöhnen, mündet wohl zwangsläufig in eine Art Selbstporträt. Das ist dann aber kein einfaches Bild, sondern eine komplexe Erinnerungsarbeit, in der die Frage nach dem, was ist, und sich in der Frage fortspinnt nach dem, was sein könnte oder was hätte sein können, wenn ….
„Conditionals“ heißt die Ausstellung bei Tanya Leighton, die Alejandro Cesarco als Raum solcher latenter Möglichkeiten installiert hat. Neben Fotografien von Zeichnungen und Druckseiten sowie John Baldessaris Knieen zeigt der 1975 in Montevideo geborene Künstler, der heute in Madrid lebt und arbeitet, mit „Midcareer“ und „Script“ zwei Filme aus diesem Jahr. Beide stehen für Möglichkeiten des Erinnerns und beide sind sie ein Selbstporträt.
„Script“ handelt vom Lesen und Wiederlesen, von der Lektüre über die Jahre hinweg, von Texten von Andrea Büttner, Isabelle Graw, Benjamin H.D. Buchloh oder Douglas Crimp, um nur einige zu nennen. Der Film zeigt die Buchseiten mit all ihren Unterstreichungen, Markierungen und Randnotizen, in denen man sich Jahre später beim erneuten Lesen wiedererkennt, womöglich aber auch vergeblich sucht.
Die Enttäuschung bringe den in seinen Sehnsüchten Gefangenen auf den Boden der Tatsachen zurück, sagt der vom uruguayischen Schauspieler David Hendler verkörperte „Midcareer“-Künstler, bevor der Film mit dem Bild einer im Dämmerlicht versinkenden Landschaft endet, die die Kamera auf der von magischem Neonlicht beleuchteten Straße durchquert – ein Bild das aus Tora Aghabayovas Serie „Nichts“ stammen könnte.
Auslöser, Cesarcos Ausstellung bei Tanya Leighton zu besuchen, war das in der Ankündigung erwähnte Foto „Untitled (John Baldessari's Knees)“ 2013/2023, also die Verheißung, die Knie des Künstlers, kennen zu lernen. Wobei sich gleich die Frage stellte, was eigentlich verspreche ich mir von dieser Fotografie? Warum will ich Baldessaris Knie sehen? Und wie weiß ich, dass es seine sind, die ich da sehe? Ist das überhaupt wichtig? Warum sollte nicht jedes Paar Knie, als die von John Baldessari durchgehen? (Nur dürften die Beine nicht zu kurz und die Knie nicht zu schmal sein.)
Interessanterweise Weise stellt sich heraus, dass das Foto eine Rekonstruktion ist, weil die Originalaufnahme, 2013 während Cesarcos Arbeit mit John Baldessari entstanden, verloren gegangen ist. John Baldessari wusste bekanntlich, dass „Kunst mehr ist als nur Malen“, aber was ist Kunst, auch die Malerei, mehr, als die Möglichkeit und die Notwendigkeit, Konzepte der Erinnerung, der Realität und des Sehens in Frage zu stellen?
Bildproduktion und ein berühmtes Lächeln
Von Anfang an sind Viktoria Binschtoks fotografische Werkgruppen ästhetische Versuchsanordnungen, um den Bild-Welt-Verhältnissen in Zeiten von Digitalisierung und inzwischen von KI auf die Spur zu kommen. Könnte es sich die Meisterschülerin von Timm Rautert unter dem Eindruck seiner „Bildanalytischen Photographie“ zur Aufgabe gemacht haben, das analytische Potenzial der Bildproduktion voll auszuschöpfen? Weil Bildproduktion mehr ist als nur Fotografieren?
Ihre fünfzehn „Typewriter Photographs“ bei Klemm’s zeigen auf den ersten Blick die immer gleiche Aufnahme einer mechanischen Typenhebelschreibmaschine, in die ein weißes, beschriebenes Blatt eingelegt ist.
Mal ist das Blatt eher leer, weil nur wenige Notizen darauf zu lesen sind, mal ist es mehrfach übertippt und vollgeschrieben. Mal sind die Wörter klar typografisch angeordnet und erinnern an längst vergangene Zeiten konkreter Poesie. Von links nach rechts schräg abfallend heißt es dann “occupied, free, occupied, occupied, occupied, occupied, free, occupied“ oder im Uhrzeigersinn „white mal, age 58.2, no hair, white female, age 42.5, blonde hair“, etc. Tatsächlich hat jede der in hellem Holz gerahmten Fotografien trotz des scheinbar immer gleichen Motivs einen anderen Titel. Weil eben jede Fotografie von einem anderen Bild handelt.
Der Titel der schräg gereihten Wörter occupied und free lautet „parking lots“, was spontan sinnvoll erscheint und ebenso spontan an Ed Ruschas „Thirtyfour parking lots in Los Angeles“ (1967) erinnert, eben weil Ruscha nur die weißen, oft schräg gestaffelten Markierungen der leeren Parkplätze fotografiert hat. Ob eines der Bilderkennungsprogramme, die Viktoria Binschtok auf ganz unterschiedliches Material wie Pressefotos etwa vom G7-Gipfel, private Aufnahmen oder Werbebilder angewendet hat, hier Parkplätze erkannt hätte? Und erkennen wir in den Angaben „28 year old woman, brown hair, 43% happy“ die im Titel erwähnte „Mona L.“, das meistfotografierte Kunstwerk der Welt?
Tora Aghabayova: Allegory of a Stranger, Under the Mango Tree, bis 19. 01. 2024, ggfs. Winterpause, Mi.–Fr. 11.30–14 Uhr+15.30–18.30 Uhr, Sa./So. 13–16.30 Uhr, Merseburger Str. 14
Alejandro Cesarco: Conditionals, Tanya Leighton, bis 16. 12., Di.–Sa. 11–18 Uhr, Kurfürstenstr. 156
Viktoria Binschtok: 43% happy, Klemms’s, bis 13. 01. 2024, Winterpause 23.12.23–8.1.24, Di.–Sa. 11–18 Uhr, Prinzessinnenstr. 29
Immerhin können wir gut verstehen, dass Mona Lisa bei all dem Trubel nur mäßig amüsiert ist. Was auch auf uns zutrifft, konfrontiert mit Deep-Learning-Systemen, die unsere Emotionen anhand von Mimik und Gestik so präzise erschließen, dass sie sie auch gleich quantifizieren können. Konfrontiert mit Systemen, die uns individuell erkennen, weswegen wir es sein könnten, wenn das Programm inmitten eines mit „person, person, person …“ vollgetippten Blatts verkündet: „suspect found!!!“.
Völlig ernüchtert sind wir schließlich, wenn wir daran denken, dass hinter der Maschinenintelligenz vor allem menschliche Anstrengung steckt. Denn der funktionale wie der wirtschaftliche Erfolg der sogenannten selbstlernenden Systeme beruht auf der Ausbeutung von Arbeitskräften, deren Job es ist Millionen von Bildern einzeln zu beschreiben und im System zu verankern.
Und der goldene Glanz der Typenhebel aus Messing in der alten mechanischen Schreibmaschine erinnert er nicht an den Sonnenuntergang, bevor die Welt im Dämmerlicht der Daten versinkt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!