LGBTIQ und Migration: Flucht im Zeichen des Regenbogens
Queere Geflüchtete bekommen in Deutschland leichter Asyl als früher. Doch weltweit nehmen Repressionen zu. Ein Überblick und drei Protokolle.
B is in die fernen USA verbreitete sich die Nachricht: „Libyscher LGBTIQ-Aktivist bekommt in Deutschland Asyl – in nur zehn Tagen“, schrieb das queere US-amerikanische Portal Washington Blade. Die Rede war von dem schwulen Journalisten Ayman M., der vor dem Terror des IS in der libyschen Hafenstadt Bengasi geflohen war und im Juli 2017 in Berlin einen Asylantrag stellte. Nur zehn Tage nach seinem Interview mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lag die Anerkennung im Briefkasten der Wohnung in Berlin-Steglitz, die M. mithilfe queerer Unterstützer:innen angemietet hatte. Selbst bei Pro Asyl, denen in Sachen Asyl in Deutschland kaum etwas entgeht, war man baff: Zehn Tage, das dürfte Rekord sein, hieß es dort.
Die enorme Kürze zeigt, dass Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung in Deutschland wie auch in einer Reihe anderer Länder heute als Fluchtgrund anerkannt ist – eine wichtige Entwicklung im Asylrecht der vergangenen Dekade. Bereits 2007 fand im indonesischen Yogyakarta eine Tagung renommierter Menschenrechtler*innen statt, die die Allgemeinen Menschenrechte auf die Bereiche sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität angewendet haben.
Seither sind die sogenannten Yogyakarta-Prinzipien ein globaler Standard für die Sicherung von Menschenrechten für queere Personen, sie fanden in den vergangenen Jahren verstärkt auch Niederschlag in der Praxis. Die Behandlung von LGBTIQ sei bei „Staaten, der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft zunehmend in den Blickpunkt gerückt“, stellte das UN-Flüchtlingswerk UNHCR 2021 fest.
Ebenfalls wichtig ist, dass die queere Szene heute vielen Menschen informelle Hilfe und Solidarität bietet. „Von Menschen aus der Berliner LGBTIQ-Community habe ich viel Unterstützung bekommen, sie haben mir auch einen Anwalt vermittelt“, sagt Ayman M. Projekte wie die Rainbow Welcome Map zeigen in vielen Ländern Europas zivilgesellschaftliche Anlaufstellen für LGBTIQ-Geflüchtete.
Zahl der Schutzsuchenden steigt
Mehr offizielle Anerkennung, mehr Unterstützung – diese Entwicklungen sind erfreulich, beschränken sich allerdings nach wie vor auf bestimmte Staaten. Global betrachtet ist der Fall Ayman M. eine große Ausnahme. LGBTIQ haben bis heute in vielen Ländern in der Regel große Schwierigkeiten, Schutz zu finden.
Populismus, Anti-Wokeness und Islamismus befeuern Queerfeindlichkeit, auch in den Transit- und Zielländern globaler Fluchtbewegungen. Queeren Menschen droht heute in mehr als 60 Staaten strafrechtliche Verfolgung. 34 dieser Staaten haben diese Gesetze in den vergangenen Jahren aktiv angewandt. In sieben Staaten droht unter bestimmten Umständen die Todesstrafe: Saudi-Arabien, Jemen, Iran, Brunei, Nigeria (extralegale Tötung mit Bezug auf Scharia im Norden), Mauretanien und Uganda.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Fest steht: „Die Zahl der Schutzsuchenden in dem Bereich nimmt zu“, sagt Eujin Byun, die beim UNHCR für das Thema zuständig ist, der wochentaz. „Gleichzeitig trauen sich viele LGBTIQ-Flüchtende nicht, den wahren Grund für ihre Verfolgung zu nennen“, sagt Eujin Byun. Sie fürchteten Übergriffe durch andere Flüchtende – oder in den Ländern, in die sie kommen.
Diese Sorgen sind nicht unbegründet. 2021 hat der UNHCR eine internationale Konferenz zu dem Thema veranstaltet. Dabei wies die Organisation darauf hin, dass LGBTIQs während der Flucht und auch nach Ankunft in Asylunterkünften „Stigmatisierung, sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, Missbrauch oder mangelndem Schutz durch Sicherheitskräfte“ ausgesetzt seien, sie litten unter „willkürlicher Inhaftierung, Abschiebung und Ausschluss vom Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen“. Ihre Flucht könne in Ländern enden, in denen sie „einem ähnlichen oder höheren Risiko homophober, bi- oder transphober Gewalt ausgesetzt sind, sowohl von Staatsangehörigen des Aufnahmelandes als auch von anderen Vertriebenen“. Betroffene, mit denen die wochentaz gesprochen hat, bestätigen das.
Keine Erwähnung in der Genfer Konvention
In sechs der Top-10-Flucht-Zielländern ist LGBTIQ-Feindlichkeit heute offen staatliche Politik: in Iran, Äthiopien, Bangladesch, Sudan, Uganda und Pakistan. Wegen der geografischen Nähe zu bewaffneten Konflikten oder aufgrund von Vertreibungen sind viele Millionen Menschen trotz fehlender Menschenrechtsstandards in diese Staaten geflohen.
In drei weiteren Ländern – Polen, der Türkei und Russland – ist es um die LGBTIQ-Rechte ebenfalls nicht zum Besten bestellt. Und auch in den USA nimmt durch das Erstarken der religiösen Rechten Queerfeindlichkeit zu. Im März 2022 etwa trat in Florida das sogenannte „Don’t say gay-Gesetz“ in Kraft – sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität dürfen bis zur 12. Klasse nicht mehr Teil des Lehrplans sein. Das Portal queer.de schätzt, dass allein im Jahr 2022 in den 51 Bundesstaaten bis zu 400 queerfeindliche Gesetzentwürfe eingebracht wurden.
Dabei begründet Verfolgung als LGBTIQ heute in vielen Ländern einen formalen Schutzanspruch. In der Genfer Konvention ist zwar weder sexuelle Orientierung noch sexuelle Identität explizit erwähnt. Die Rede ist allerdings von einer „begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“. Darunter werden heute auch LGBTIQ verstanden, entsprechend haben sie die Möglichkeit, Asylanträge zu stellen. Das ist das Ergebnis jahrzehntelanger internationaler juristischer Auseinandersetzungen, die ab Mitte der 1990er Jahre begannen, Früchte zu tragen.
Vollständige Sicherheit bedeutet dies mitnichten. LGBTIQ-Geflüchtete müssen heute in Asylverfahren einerseits ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität „glaubhaft vortragen“. Doch dies gelinge vielen „aus Angst, Scham und/oder Unwissenheit nicht oder nicht sofort“, schreibt der Lesben- und Schwulenverband Deutschland. „Sie scheitern immer wieder an stereotypen Vorstellungen von Entscheider*innen und Richter*innen.“
Tschechien wurde 2010 etwa von der EU gerügt, weil es sogenannte Phallometrie-Tests angewandt hatte: In einigen Fällen wurden homosexuellen Asylsuchenden Pornofilme gezeigt und dabei der Blutfluss im Penis gemessen. So sollte die Erregung festgestellt und überprüft werden, ob die Betreffenden tatsächlich schwul waren. In Großbritannien fragen Beamte nach detaillierten Schilderungen der „emotionalen Reise“, die die Entdeckung der eigenen Homosexualität für die Schutzsuchenden bedeutete – eine für viele Betreffende gegenüber Fremden kaum zu leistende Anforderung.
Geheimhaltung darf nicht erwartet werden
Hinzu kommt, dass queere Personen darlegen müssen, dass ihnen bei Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich konkrete Verfolgung droht, die über bloße Beschimpfungen hinausgeht. Viele Asylanträge in der EU wurden lange mit der Begründung abgewiesen, die Menschen könnten mit Geheimhaltung oder „diskretem Verhalten“ einer Verfolgung entgehen.
In Deutschland etwa befand das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch 2012, dass zwei homosexuelle Frauen aus Iran kein Asyl bekommen sollten, weil dort zwar auf Homosexualität die Todesstrafe stehe, aber die „Veranlagung als solche“ nicht strafbar sei. Würden Homosexuelle „nicht mit ihren Neigungen auf der Straße provozieren“, heißt es im Bescheid, dann könnten sie ein „unproblematisches Leben im Schatten des Rechts“ führen.
Der Europäische Gerichtshof entschied indes 2013, dass von Geflüchteten nicht erwartet werden könne, dass sie ihre Homosexualität in ihrem Herkunftsland geheim halten oder Zurückhaltung üben, um eine Verfolgung zu vermeiden. Das Bundesverfassungsgericht bekräftigte 2020, dass die Geheimhaltung der sexuellen Orientierung zur Vermeidung von Verfolgung nicht erwartet werden dürfe.
Humanitäre Visa für gefährdete Personen sind auch im Koalitionsvertrag der Ampel vereinbart – die Ausstellung erfolgt aber oft nur sehr schleppend. Im Juli forderte die „Queere Nothilfe“ die Bundesregierung in einem Brief auf, Menschen aus Uganda die Ausreise nach Deutschland zu ermöglichen. In dem ostafrikanischen Land war im Mai der „Anti-Homosexuality Act“ in Kraft getreten. Passiert ist bislang nichts. Humanitäre Visa werden generell recht selten vergeben: Unter 1,27 Millionen im Jahr 2022 von deutschen Konsulaten ausgestellten Visa waren nur rund 26.000 humanitäre Visa.
Das Asylrecht steht heute stark unter Druck, und das nicht nur in Deutschland. Bei einer Rede vor der konservativen Denkfabrik American Enterprise Institute in den USA sagte die britische Innenministerin Suella Braverman im September, Menschen, die wegen ihrer Geschlechtsidentität oder Sexualität diskriminiert würden, sollten kein Asyl erhalten, wenn ihnen nicht wirklich Tod, Folter, Unterdrückung oder Gewalt drohe. „Wir werden kein Asylsystem aufrechterhalten können, wenn es ausreicht, einfach nur homosexuell oder eine Frau zu sein oder Angst vor Diskriminierung in seinem Herkunftsland zu haben, um Schutz zu erhalten.“
Was Braverman sagte, reiht sich ein in Äußerungen führender konservativer Politiker der vergangenen Monate, die das Asylrecht in Europa abbauen wollen. Es gab in der letzten Dekade erfreuliche Entwicklungen für queere Menschen. Doch es ist gut möglich, dass die Schutzmechanismen für LGBTIQ angesichts des Drucks bald wieder erodieren.
Massam Hussain Ansari aus Pakistan
Massam Hussain Ansari, 36, ist homosexuell und lebt in Köln.
Ich bin in Karatschi aufgewachsen, im Süden von Pakistan. Mit 15 Jahren habe ich gemerkt, dass ich schwul bin. Uns wurde gesagt, es sei eine Sünde, aber ich fühlte mich immer zu Männern hingezogen und konnte es niemandem sagen. Als ich 20 war, starb mein Vater an einem Herzleiden. Fortan musste ich mich um die Erziehung und die Heirat meiner vier Schwestern kümmern. In der patriarchalischen muslimischen Gesellschaft Pakistans ist es traditionell die Aufgabe des Bruders, dafür zu sorgen, dass seine Schwestern verheiratet werden.
Um meine Familie zu unterstützen, habe ich in einem Ingenieurbüro in Karatschi gearbeitet. Ich habe eine Beziehung mit einem Kollegen angefangen, einem Mann aus den nördlichen Provinzen Pakistans. Ich stellte mir ein typisches Familienleben mit ihm vor. Doch die Beziehung hat nicht lange gehalten, wir haben uns viel gestritten. Ich habe keine Zukunft mehr für mich gesehen und war verzweifelt. Mit 23 habe ich versucht, meinem Leben ein Ende zu setzen. Das hat in meiner Familie ein großes Drama ausgelöst. Denn dadurch wurde ich auch als schwul entlarvt.
Nach dieser Krise war ich entschlossen, mein Leben als schwuler Mann zu leben. 2014, damals war ich 27, habe ich meinen Partner Akbar auf Manjam kennengelernt, das war eine damals in Pakistan sehr beliebte Dating-Website für Schwule, sie wurde später verboten. Ich wusste: Es ist riskant, in Pakistan einen Fremden über eine Website für Schwule zu treffen. Andererseits war es eine der wenigen Plattformen, die eine große, aber verstreute Gruppe schwuler Männer in den Großstädten miteinander verbunden hat.
Zusammen mit Akbar bin ich schließlich nach Lahore gezogen. Wir wollten einen Neuanfang wagen, weit weg von Karatschi. Mir war nicht klar, wie sehr sich mein Leben dadurch verändern würde. Fast ein Jahrzehnt waren wir zusammen, wir lebten gemeinsam in einer Wohnung in Lahore. Unsere Beziehung war in der LGBTQ-Gemeinschaft von Lahore bekannt. Ich denke, wir waren ein Vorbild für viele, die diskret ein queeres Leben führten.
Ich arbeitete in dieser Zeit mit verschiedenen pakistanischen Queer-Organisationen zusammen. 2019 wurde ich dann von der Polizei in Lahore verhaftet. Ich wurde der „Förderung der Homosexualität“ verdächtigt; die Behörde ist dem Tipp eines ehemaligen Kollegen nachgegangen. Mein Partner Akbar wurde verhört, mein Laptop nach Beweisen für Kampagnen und Schwulenpornografie durchsucht. Später haben sie mich freigelassen, aber unter Polizeiaufsicht gestellt.
Das waren schwierige Jahre. 2021 wurde bei mir HIV diagnostiziert. Akbar und ich, wir trennten uns 2022. Im April 2022 habe ich ein Stipendium erhalten, mit dem ich nach Köln reisen und drei Monate an einem Projekt des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD) teilnehmen konnte. Während ich hier war, haben die pakistanische Bundespolizei und der militärische Geheimdienst eine Razzia an meinem Arbeitsplatz in Lahore durchgeführt. Sie beschuldigten uns, an einer ausländischen Agenda zu arbeiten, die sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzt.
Wäre ich nach Pakistan zurückgegangen, ich wäre bestimmt verhaftet worden. Deshalb habe ich mich schließlich entschieden, einen Asylantrag zu stellen. Dabei war das nie der Plan. Natürlich vermisse ich meine Heimat.
In Köln habe ich mich neu verliebt. Ich habe Fritz kennengelernt, er ist 81, ein Kunstsammler und Kurator. Wir haben uns einfach gut verstanden, weil wir beide erlebt haben, wie es ist, als Homosexuelle diskriminiert zu werden, aber in ganz unterschiedlichen Zeiten, Umständen und Teilen der Welt.
Ich habe mich in einem Flüchtlingslager in Bochum registriert, nur so konnte ich Asyl beantragen. Im September 2022 wurde ich vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge befragt, vier Stunden hat das Gespräch gedauert. Eine Woche nach der Anhörung bekam ich Asyl. So schnell ging es wohl auch deshalb, weil der LSVD mich während des Verfahrens betreut und beraten hat. Da meine Lebensbedingungen bei Zuschlag besser waren als im Flüchtlingslager, durfte ich weiter bei Fritz leben.
Ich liebe mein Leben in Köln. Ich habe einen großen Freundeskreis. Jetzt, da ich Asyl erhalten habe, freue ich mich darauf, eine Krankenversicherung für die HIV-Behandlung zu bekommen, ein Bankkonto zu eröffnen und durch Europa zu reisen. Außerdem unterstütze ich queere Menschen in Pakistan aus der Ferne und ermutige meine trans Freunde, das Land zu verlassen und Asyl zu beantragen. Für queere Menschen dort wird es nur noch schlimmer werden, und ich möchte etwas in ihrem Leben bewirken, so wie Fritz es in meinem getan hat.
Shahram Ahmadi aus dem Iran
Shahram Ahmadi , 40, bezeichnet sich selbst als schwul und bisexuell. Er lebt in Berlin.
Aufgewachsen bin ich in Kermanschah, einer überwiegend kurdischsprachigen Stadt. Schon da hatte ich eine homosexuelle Beziehung, bei meiner Familie habe ich mich aber nicht geoutet. 2016 habe ich mich von meinem Freund getrennt.
Ich bin nach Teheran gezogen, ich wollte wissen, was die Hauptstadt zu bieten hat. Dort habe ich als Busfahrer gearbeitet, ich verdiente ein anständiges Einkommen, lebte in einer eigenen Wohnung. In Teheran habe ich mich diskret mit anderen schwulen Männern in einem Park getroffen. Das war sehr riskant. Aber es war ein Traum für mich zu sehen, dass es einen solchen Park gibt und dass so viele queere Menschen dort hingehen.
Ich habe die queere Szene der Stadt kennengelernt, bin zu heimlichen Treffen gegangen. 2019 war ich auf einer queeren Party. Die Polizei hatte einen Hinweis bekommen, sie stürmte die Veranstaltung, ich wurde verhaftet. Ich kam wieder frei, allerdings wurde gegen mich ein Verfahren eröffnet. Deshalb beschloss ich zu fliehen.
Im August 2019 reiste ich nach Istanbul und suchte dort Schleuser, die mich nach Griechenland bringen könnten. Beim ersten Versuch wurde ich betrogen, sie setzten unsere Gruppe einfach in einem Wald aus. Ich bin nach Istanbul zurückgekehrt, andere Schleuser brachten mich in einem kleinen Boot auf die griechische Insel Lesbos.
Wir kamen ins Flüchtlingslager Moria. Die hygienischen Bedingungen waren katastrophal, es gab auch Bandengewalt im Camp. Eines der Bandenmitglieder war mein Zimmergenosse, und er wusste, dass ich eine Beziehung mit einem Mann hatte. Er erpresste mich und drohte mir, dass er mich vor allen in Moria als schwulen Mann outen würde. Ich musste ihm Geld zahlen und Sex anbieten.
2020 gelang es mir, das Camp zu verlassen. Flüchtlingshelfer*innen unterstützten mich dabei, ins Lager Pikpa in der Nähe von Mytilini auf Lesbos umzuziehen. Dort sind die Lebensbedingungen besser, es gibt eine LGBTQ-Gruppe, der habe ich mich angeschlossen. Ich habe Asyl beantragt und bekam eine griechische Aufenthaltsgenehmigung. Ich verließ das Lager und ging nach Mytilini, wo ich verschiedene Jobs annahm, unter anderem als Übersetzer von Dari oder Farsi ins Englische. Ich mietete auch eine eigene Wohnung.
Mit meinem neuen Leben war ich zufrieden, doch die Bande, die mich in Moria erpresst hatte, drohte mir erneut. Sie sagten, sie würden online verbreiten, dass ich schwul bin, und das auch in meiner Heimat publik machen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und floh nach Thessaloniki. Mit dem Flugzeug bin ich dann nach Berlin geflogen und habe dort im Februar 2022 ein zweites Mal Asyl beantragt.
Ich wollte nach Berlin, weil ich hier Freunde habe und NGOs kenne, die queeren Flüchtlingen helfen. Im März 2022, einen Monat nach meiner Ankunft, bin ich in eine Flüchtlingsunterkunft in Treptow-Köpenick gezogen. Sie bietet Platz für 120 queere Flüchtlinge und ist die größte Unterkunft für queere Geflüchtete in Deutschland. Ich teile mir mein Zimmer mit drei anderen schwulen Flüchtlingen. Unsere vier Metallbetten sind nur durch eine Trennwand voneinander abgeteilt. Meine Habseligkeiten bewahre ich unter dem Bett auf, in kleinen Tüten und einem Pappkarton. Das Zimmer hat eine Speisekammer, ein eigenes Bad und einen Balkon mit Blick auf den Hinterhof.
Meine Mitbewohner kommen aus verschiedenen Ländern wie Afghanistan, Irak und Iran, sie wechseln, sobald sich ihr Asylstatus ändert. Das größte Problem ist der Mangel an Privatsphäre. Weil das Zimmer eng ist, gibt es oft Spannungen. Nachts wache ich auf, weil mein Mitbewohner, ein Mann aus dem Irak, schnarcht. Das klingt wie ein kleines Problem, aber ich kann keinen Job finden oder arbeiten, wenn ich tagelang nicht richtig geschlafen habe. Eine Arbeitserlaubnis für Deutschland habe ich inzwischen.
Ich habe eine posttraumatische Belastungsstörung. Ich werde behandelt, aber das hilft nur begrenzt. Im vergangenen Winter ging es mir so schlecht, drei Nächte hintereinander konnte ich nicht schlafen, ich sah keine Zukunft mehr für mich in Berlin und habe versucht, mir nachts in der Gemeinschaftsküche der Unterkunft das Leben zu nehmen.
Seit diesem Frühjahr geht es mir etwas besser. Im April 2023 habe ich Asyl bekommen. Ich lebe weiterhin in der Unterkunft, suche aber nach einer eigenen Wohnung. 502 Euro bekomme ich vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten im Monat, das reicht kaum aus, um davon zu leben.
Als ich nach Berlin kam, versuchte ich mein Einkommen für ein paar Monate mit Sexarbeit aufzubessern. Ich bin durch arabische Viertel in Berlin gelaufen, um meine Kunden zu finden. Ich hatte Angst davor, das online zu tun, da meine Familie es herausfinden könnte. Sexarbeit ist oft erniedrigend und auch unsicher. Deshalb will ich jetzt einen anderen Job suchen.
Ich habe die queere Szene in Berlin entdeckt, das „Ficken 3000“ in Kreuzberg ist mein Stammlokal geworden. Trotz aller Schwierigkeiten ist mein Leben in Berlin sicher, es geht mir hier viel besser als im Iran oder auch in Griechenland.
Alex Stone aus den USA
Alex Stone (Name geändert), 40, definiert sich als agender, fühlt sich also keinem Geschlecht zugehörig. Stone lebt derzeit in Berlin.
Ich habe in den Vereinigten Staaten an der Indiana University studiert und dort bei Campus-Aktivitäten der Demokratischen Partei mitgemacht. Ich habe mich auch gegen Neonazi-Gruppen engagiert, es wurden mir Morddrohungen nach Hause geschickt. Wegen dieser politischen Bedrohung, aber auch wegen meiner geschlechtlichen Identität konnte ich nicht frei im Bundesstaat Indiana leben. Ich hatte große Angst vor einem Übergriff.
Die erwies sich leider als berechtigt. 2015 wurde ich in Indiana von einem Auto überfahren. Seitdem habe ich bleibende körperliche und seelische Verletzungen, unter anderem wurde mein Rückenmark verletzt. Ich fand heraus, dass es sich bei dem Fahrer des Wagens um einen Polizeibeamten handelte, der mit der Traditionalist Worker Party zu tun hatte, einer rechtsextremen antisemitischen Neonazi-Gruppe, die sich für „rassisch reine“ Nationen einsetzt. Was sollte ich tun? Man kann die Polizei schließlich nur schwer auf die Polizei ansetzen.
Ein Umzug in einen anderen Bundesstaat kam für mich nicht in Frage. Ich wusste, ich würde mich nirgendwo sicher fühlen, vor den Angreifern, den Drohungen. Ich wusste keine Lösung und beschloss im Jahr 2018, nach Berlin zu fliehen.
Ich kannte die Stadt bereits, ich hatte hier eine Zeit lang Geschichte studiert. Damals habe ich auch das Grundgesetz kennengelernt. Ich wusste, dass das Recht auf Asyl in Deutschland ein Grundrecht ist. Ich kannte allerdings keinen Präzedenzfall, in dem eine queere Person aus den USA Asyl in Deutschland beantragt hätte. Es war eine Herausforderung, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge davon zu überzeugen, dass queere Menschen in den USA nicht sicher sind und ich deshalb Anspruch auf Asyl habe.*
Asyl habe ich nicht bekommen. Ich werde aber geduldet, das heißt, ich werde nicht abgeschoben – erstmal. Ich habe große Angst, über Nacht doch wieder mein Zuhause zu verlieren.
In meinem ersten Jahr in Deutschland wohnte ich in einer Flüchtlingsunterkunft für queere Personen in Berlin. Ich hatte dort eine schlimme Zeit, es gab Transphobie und Gewalt gegen geschlechtsuntypische Menschen, einschließlich sexueller Übergriffe. Ich fühlte mich von der Heimleitung nicht unterstützt und suchte mir schließlich eine eigene Wohnung.
Seit vier Jahren lebe ich nun allein. Ich bekomme finanzielle Unterstützung vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, 502 Euro pro Monat. Mein Status als geduldete Person erlaubt es mir nicht, einer Vollzeitbeschäftigung nachzugehen, dabei könnte ich arbeiten, ich habe auch Qualifikationen.
*Anm. d. Red.: Proteste gegen queere Menschen haben in den USA in den vergangenen Jahren stark zugenommen, gleichzeitig werden vielerorts ihre Rechte angegriffen. So wurden in Texas zum Beispiel in der aktuellen Legislaturperiode 140 queerfeindliche Gesetzesentwürfe von Abgeordneten des Staates eingereicht. Im August hat Kanada eine Warnung an seine LGBTQ-Bürger*innen herausgegeben und rät ihnen bei Reisen in die USA zur Vorsicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vermeintliches Pogrom nach Fußballspiel
Mediale Zerrbilder in Amsterdam
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Berichte über vorbereitetes Ampel-Aus
SPD wirft FDP „politischen Betrug“ vor
Toxische Bro-Kultur
Stoppt die Muskulinisten!
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“