Heimatverlust in Israel: Das gebrochene Versprechen Israel
Schon 2003 ließ die zweite Intifada die Menschen in Israel an ihrer Sicherheit zweifeln. Viel stärker erschüttert ist ihr Glaube an das Land jetzt.
O ft musste ich in den Tagen seit dem Angriff der Hamas auf Israel an die Begegnung mit einer Frau denken, die ich auf der Terrasse einer Bar am Toten Meer traf. 2003 war das, die zweite Intifada war noch im Gange. Immer wieder sprengten sich palästinensische Selbstmordattentäter in israelischen Bussen, in Straßen, in Einkaufszentren in die Luft und rissen Menschen mit sich; wahllos, kühl, hasserfüllt.
Es war schrecklich, aber die Israelis schienen sich damit abgefunden zu haben. Wo es nachmittags einen Anschlag gegeben hatte, fuhr man abends wieder vorbei. Nichts war zu sehen. Wie weggewischt.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Aber das schien nur so, in Wahrheit war es anders. Die Deutsche Botschaft in Tel Aviv etwa, in deren Nachbarschaft ich damals lebte, hatte viel damit zu tun, Pässe für Israelis mit deutschen Vorfahren auszustellen. Wer konnte, besorgte sich einen, um notfalls anderswo unterzukommen.
Auch diese Frau, die ich am Toten Meer traf, hatte für sich und ihre Familie deutsche Pässe geholt. Das erzählte sie mir, beiläufig fast, als wir über „die Situation“ sprachen – „die Situation“, das war wie ein Codewort für alles, was diese ganze, schlimme Phase des Nahostkonfliktes mit dem Alltag der Israelis machte. Die Frau deutete auf ihre kleine Tochter und sagte: „Vielleicht ist es besser, einfach gehen zu können.“
Erschüttertes Vertrauen
Wie fragil das alles ist, dachte ich. Ein Staat, der gegründet wurde, um seinen Menschen Schutz zu bieten, eine Reaktion auf das unvorstellbar große Verbrechen der Deutschen an den Juden. Ein Mädchen, um dessen Zukunft der Mutter bang war.
Die Tochter müsste jetzt in einem Alter sein, in dem man das Wochenende auf Festivals durchtanzt. Die Feiernden des Supernova-Festivals nahe dem Gazastreifen gehörten zu den ersten Opfern der Hamas. Oder sie ist Reservistin und macht sich bereit für den Einmarsch in den Gazastreifen. Das Land ist so klein, schnell kennt man jemanden, der dabei war, als etwas passierte.
Das damals war eine Zufallsbegegnung, ich habe danach nie wieder mit der Frau gesprochen. Ist die Familie geblieben? Und um wie vieles erschütterter ist der Glaube an die Sicherheit – und vor allem die Wehrhaftigkeit – des Staates Israel jetzt! Israel basiert auf einem Versprechen. Hier können wir sicher leben. Am 7. Oktober 2023 wurde dieses Versprechen gebrochen.
Ich rede viel mit Freundinnen und Freunden in Israel. Die vergangenen Monate waren von Verzweiflung über die rechtsreligiöse Regierung mit Bibi Netanjahu an der Spitze geprägt. Sie dachten, ihr Land erledige sich von selbst. Die Justizreform, das Ende der Demokratie. Das griff viele ihrer Ideale an, dafür gingen sie auf die Straßen.
Jetzt gehen sie in Bunker und haben viele Fragen: Wo war der Staat – ihr Staat? Wo waren die Geheimdienste – ihre Geheimdienste? Wo war Bibi – nicht ihr Bibi, aber eben doch der Premierminister? Wie geht es weiter?
Bleiben oder gehen?
Der Freund in Tel Aviv sagt, er sehe kaum noch den Grund dafür, weiter in dieser Weltregion zu leben. Eine meiner Töchter sagt, er könne doch zu uns kommen. Klar, sage ich. Aber er hat sein Leben dort, seine Familie, seine Freunde, seine Arbeit. Es ist sein Land, sein Leben. Er kann nicht einfach gehen.
Die Freundin in Haifa hatte schon Wochen vor dem 7. Oktober geschrieben, ich solle bald mal wieder zu Besuch kommen. „Wer weiß, wie lange es unser Land noch gibt. Wir, wie so viele junge Israelis, denken über eine Alternative zu unserem Land nach, zumindest für eine Weile.“ Ihr Mann ist Grieche, das Neugeborene soll die griechische Staatsbürgerschaft bekommen. „Vielleicht ziehen wir auf eine griechische Insel.“
Der sehr säkulare Freund in Jerusalem beruhigt sich mit etwas, woran er eigentlich nicht glaubt: Jerusalem ist eine heilige Stadt, sagte er am Telefon, niemals werden sie die angreifen.
Ich weiß nicht, wie es der Frau vom Toten Meer und ihrer Tochter geht. Aber ich ahne es, denn meine Freunde zeigen es mir. Schon damals, als die Mutter mir von den deutschen Pässen erzählte, war die Gegend am Toten Meer fragil. Der Wasserspiegel sank, am Ufer wurde der Boden brüchig, tiefe Löcher entstanden. Eigentlich kein Ort zum Bleiben – wie das ganze Land.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen