Oppositionelle in Russland: „Er lässt sich nicht brechen“

Boris Kagarlizki ist der bekannteste linke Dissident Russlands und sitzt in U-Haft. Seine Tochter spricht im Interview über Protest und Repression.

Ein politisches Plakat, mit dem Portät von Boris Kagarlitsky und dem Wort Liberte/Freitheit

Eine internationale Kampagne fordert die Freilassung von Kagarlizki, hier ein Plakat in Berlin Foto: Daniel Biskup/laif

wochentaz: Frau Kagarlizki, wann haben Sie mit Ihrem Vater das letzte Mal gesprochen?

Xenia Kagarlizki ist die Tochter des russischen Soziologen und Dissidenten Boris Kagarlizki. Die 26-Jährige hat Geografie an der Moscow State Pedagogical University studiert und arbeitet als Videoproduzentin für das linke russische Onlinemagazin Rabkor. Seit 2022 lebt sie im Exil in Montenegro.

Xenia Kagarlizki: Zwei Tage bevor er festgenommen wurde, haben wir telefoniert. Seitdem können wir nur noch per Brief miteinander kommunizieren. Ich schreibe ihm täglich, und er antwortet mir eigentlich genauso oft. Da ich inzwischen in Montenegro lebe, habe ich ihn das letzte Mal vor einem Jahr getroffen.

Wie geht es ihm?

Boris sagt immer, dass es ihm gut geht. Er will nicht, dass wir uns Sorgen machen. Aber natürlich ist es schwer für ihn. Er hat Probleme mit dem Herzen und einen hohen Blutdruck. Im Gefängnis bekommt er zwar Medikamente, aber nicht die richtigen. Trotzdem beschwert er sich in den Briefen eher über die Langeweile und das schlechte Fernsehprogramm. Er laufen fast nur russische Propagandasendungen. Das ist wie Folter für ihn.

Ihrem Vater wird Rechtfertigung von Terrorismus vorgeworfen, ihm drohen bis zu sieben Jahre Haft. Wie schätzen Sie das Verfahren gegen ihn ein?

Wir hoffen, dass er doch noch freigelassen wird. Unser Anwalt ist optimistisch. Aus seiner Sicht gibt es keine Beweise für eine Straftat. Boris war immer sehr vorsichtig, wie er seine Kritik verpackt. In der Anklage geht es nur um eine Aussage, und die ist schon ein Jahr alt.

Um was geht es genau?

Im Oktober 2022 hat er in einem Stream gesagt, dass er „versteht“, warum die ukrainischen Streitkräfte die Brücke zur Krim angreifen. Das ist alles. Mehr hat die Staatsanwaltschaft anscheinend nicht. Allerdings verschieben sie den Prozess jetzt einfach immer weiter, sodass Boris womöglich noch Jahre in Untersuchungshaft bleiben muss. Eigentlich sollte die Verhandlung im September beginnen. Nun ist sie für den 24. November angesetzt.

Warum wurde Ihr Vater gerade jetzt festgenommen, kurz nach dem Wagner-Aufstand?

Mein Vater ist keine superwichtige Figur für Putin, aber der Wagner-Aufstand war sehr peinlich für diesen, er hat Schwäche gezeigt. Um zu zeigen, dass er noch mächtig ist, hat Putin erst den rechten russischen Nationalisten Igor Girkin festgenommen und dann meinen Vater. Mit den Verhaftungen will er zeigen, dass keine Abweichung, egal aus welcher politischen Richtung, geduldet wird.

Ihr Vater war schon in der Sowjet­union im Gefängnis, weil er für einen demokratischen Sozialismus kämpfte, in den 1990er Jahren hat Jelzin ihn eingesperrt, weil er den Autoritarismus im neuen Russland kritisierte. Gab es jemals Freiheit in Russland?

Nein, in der ganzen russischen Geschichte nicht. Vielleicht waren die Spielräume in den frühen 2000ern etwas größer. Lesben und Schwule hatten sicher mehr Freiheit damals. Das bekannte lesbische Popduo t.A.T.u. hat sogar im Kreml gespielt. Heute kann man sich das gar nicht mehr vorstellen. Aber damals gab es sogar unter Putin Gay-Pride-Paraden, und Proteste waren erlaubt, mehr als danach jedenfalls. Seit der Annexion der Krim sind die Verhältnisse in Russland immer autoritärer geworden.

Bedient sich Putin jener Methoden, die er beim KGB in der Sowjetunion gelernt hat?

Seine Methoden sind anders. Es ist nicht mehr so schlimm wie unter Stalin, andererseits hatte Stalin nicht die modernen Technologien, die Putin zur Verfügung stehen. Heute sind in Russland alle Großstädte videoüberwacht. Wenn man an einem Protest teilnimmt, wird man mit Glück vielleicht nicht direkt festgenommen, aber dann holen sie einen anschließend von zu Hause ab. Die Angst wächst. Darum geht es in Putins Diktatur.

Sie haben gemeinsam mit Ihrem Vater das linke russische Onlinemagazin Rabkor („Arbeiterkommunikation“) aufgebaut. Inzwischen koordinieren Sie die Arbeit aus Montenegro. Was ist das Ziel von Rabkor?

Unser Ziel ist es, linke Ideen in Russland zu popularisieren und zugänglich zu machen. Ich bin Produzentin, mein Vater und ein größeres Team liefern den Content. Wir streamen aus Montenegro, was damit zu tun hat, dass ich nach Kriegsbeginn hierher geflüchtet bin. Ansonsten wäre mein Ehemann in die Armee eingezogen worden.

Wie ist die Situation der Linken und der Antikriegsbewegung in Russland?

Weder in Russland noch international gibt es viele Linke im Sinne von Sozialisten. Es gibt zwar eine Antikriegsbewegung, aber die ist zerstritten. Ein Teil will alle politischen Unterschiede bis zum Sturz von Putin beilegen. Das finde ich richtig. Allerdings will die Szene um Alexei Nawalny da nicht mitmachen und tritt mit einer Art Führungsanspruch auf. Das ist ein großes Problem.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Hier in Deutschland gehen viele davon aus, dass alle Russen den Krieg unterstützen. Wie sehen Sie das?

Putins Propaganda schlachtet das natürlich aus. Er sagt: Der Westen hasst euch, weil ihr Russen seid, deshalb müssen wir uns verteidigen. Wenn im Westen pauschalisierend über Russen gesprochen wird, ohne die Opposition zu berücksichtigen, hilft das Putin. Die normalen Menschen in Europa verstehen das und differenzieren zwischen Putin und den Russen, die den Krieg nicht wollen. Manche Politiker sehen den Unterschied allerdings nicht.

Wie meinen Sie das?

Die Europäische Kommission hilft der russischen Opposition nicht wirklich. Noch bis 2022 hat sie erlaubt, dass Waffen, die von der russischen Polizei gegen Demonstranten eingesetzt werden, nach Russland geliefert wurden. Und dann fragen sich dieselben Politiker, warum nur so wenig protestiert wird in Russland.

Wie geht es weiter für die Opposition?

Ich glaube, es gibt viele Menschen, die Aktionen von der Opposition erwarten und sich daran beteiligen würden. Aber viele, die so etwas initiieren könnten, sind im Gefängnis oder ins Ausland geflüchtet. Es gibt im Moment niemanden, der vorangehen könnte.

In einem Interview vor seiner Festnahme mit dem amerikanischen Sender Democracy Now war Ihr Vater hoffnungsvoll, dass Putin gestürzt werden wird. Ist er es immer noch?

Er ist die optimistischste Person, die ich kenne. Während alle in Panik geraten, bleibt er ruhig und macht einen Witz. Das hat sich nicht geändert. Putin wird verschwinden, da ist er sich sicher. Nur wann, das ist die Frage.

Woher nimmt er diesen Optimismus?

Er liegt einfach in seiner Persönlichkeit. Er ist nie bedrückt und lächelt immer. Immerhin war er schon ein paarmal in seinem Leben eingesperrt und kam immer wieder raus. Und ich glaube, das ist vielleicht auch die einzige Art, wie man dieser Situation gut begegnen kann. Er lässt sich vom Gefängnis seinen Willen nicht brechen.

Haben Sie manchmal Heimweh?

Ja, oft. Aber wenn ich daran denke, dass sie mich am Flughafen sofort verhaften würden, verschwindet das Gefühl. Montenegro ist wirklich ein wunderbares Land, und ich bin dankbar, dass sie mir ein Arbeitsvisum gegeben haben.

Was hoffen Sie für die Zukunft?

Ich hoffe, dass es einen demokratischen Weg geben wird. Vielleicht eine Öffnung, wie zum Ende der Sowjetunion. Wenn Putin gestürzt wird, muss es erst eine provisorische Regierung geben und dann hoffentlich wirklich demokratische Wahlen. Das kann allerdings nur passieren, wenn die Ukraine den Krieg gewinnt. Und auch dann besteht die Gefahr, dass Russland im Chaos untergeht. Angesichts der Atomwaffen wäre das ein großes Problem.

Würden Sie in ein Russland ohne Putin zurückkehren?

Ja, ich hoffe darauf. Sehr viele Menschen würden zurückkehren.

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