: Bei Medikamenten wird das Risiko mitgeschluckt
Unerwünschte Nebenwirkungen von Arzneimitteln können allzu oft erst entdeckt werden, nachdem das Heilmittel schon lange im Gebrauch ist
Wenn man den Kontroversen in den Medien folgt, dann gibt es zwei Lager: Auf der einen Seite die großen Pharmakonzerne, die nur ihren Profit im Auge haben, und auf der andere Seite die unabhängigen Wissenschaftler und Genehmigungsbehörden, welche die Wahrheit über die verkauften Medikament herauszufinden bemüht sind.
Wie aber verhält es sich zum Beispiel mit Vioxx aus der Reihe der Cox-2-Inhibitoren, die Millionen an Arthritis leidenden Menschen Linderung verschaffen und plötzlich Herzbeschwerden und Schlaganfällen Vorschub leisten sollen? Seit der Hersteller Merck das Medikament im vergangenen September vom Markt nahm, beschäftigen sich viele Artikel in medizinischen Fachzeitschriften wie The Lancet und New England Journal of Medicine mit der Frage, ob das Unternehmen und die Regulierungsbehörden nicht früher hätten reagieren müssen. Die Situation erinnert an diejenige vor 20 Jahren, als die Debatte um das Schmerzmittel Opren in einem Morast gegenseitiger Beschuldigungen versank.
Diesmal empfiehlt jedoch die amerikanische Food and Drug Administration (FDA), Vioxx und ähnliche Medikamente auf dem Markt zu lassen und nur die Sicherheitswarnungen zu verschärfen. Dem Problem liegt die Tatsache zugrunde, dass klinische Tests nicht umfangreich genug sind, um Nebenwirkungen rechtzeitig zu entdecken. Die theoretische Statistik zeigt, dass zur sicheren Erfassung von einer Nebenwirkung bei n Personen ein Test an etwa 8 mal n[2]Personen durchgeführt werden müsste. Zur Erfassung von einer Nebenwirkung bei 1.000 Personen – genug zur Auslösung eines Alarms wie bei Vioxx – wäre also ein Test an mehreren Millionen Personen erforderlich. In der Realität ist das vollkommen illusorisch, denn die meisten klinischen Tests werden mit weniger als 1.000 Personen vorgenommen. Das mag genügen, um die Wirksamkeit eines neuen Medikaments zu zeigen, ist aber nicht ausreichend, um auch nur eine Nebenwirkung unter 10 Personen nachzuweisen.
Die Risiken und Nebenwirkungen für das Medikament Vioxx traten 2000 nach Tests mit 8.000 Personen zutage, wonach Merck nach einem abermaligen Test an 2.500 Personen sein Produkt im vergangenen Jahr freiwillig vom Markt nahm. Die statistischen Tatsachen können nicht länger einfach vom Tisch gewischt werden, nachdem auch Hormonbehandlungen an 17.000 Frauen Risiken zutage förderten und an mehr als 87.000 Testpersonen verabreichte Antidepressiva das Suizidrisiko signifikant erhöhten.
Aus all dem ergeben sich zwei Möglichkeiten: Man kann Jahre warten, bis eine der theoretisch erforderlichen Zahl nahe kommende Anzahl Personen Tests durchlaufen hat, um Sicherheit zu erlangen, oder man muss akzeptieren, dass jedes Medikament Nebenwirkungen zeigt, diese überwachen und Nutzen und Schaden gegeneinander abwägen. JÜRGEN WOELKI
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