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Die WahrheitDer neueste Energiewendehammer

Dank „Balkonkraftchancengesetz“ können noch mehr Bürger und Bürgerinnen jetzt auf Selbstversorgung setzen.

Auch in Sachen Windenergie wird viel experimentiert Foto: dpa

„Mit der einen Hand wischt sich Kateryna Kurkowa den Regen aus dem Gesicht, doch die andere bleibt fest am Fahrradlenker. „Nur noch 800 Watt! Du schaffst das, Karolina!“, ruft Radsportenthusiast und Hauseigentümer Günter Ziergens begeistert, als Kurkowa zum Endspurt in die Pedale tritt. Trotz des heftigen Schauers ist er auf seinen Balkon getreten, um die ukrainische Sportlerin anzufeuern. Allein mit ihrer Muskelkraft elektrifiziert Kurkowa das Smarthome im Französischen Viertel, dem ökologischen Vorzeigequartier der Universitätsstadt Tübingen.

Doch Ziergens Badewasser will einfach nicht warm werden, so dass er das Programm des Fahrradergometers noch einmal ändert. Nun muss Kateryna auch noch die 5.000 Höhenmeter der gefürchteten Tour-de-France-Bergetappe nach Courchevel bewältigen, das setzt jede Menge Energie frei.

„Das ist doch eine Superchance für äh, Kseniya, trotz des Kriegs in ihrer Heimat im Training zu bleiben. Außerdem kann sie froh sein, dass …“, versucht sich der Hausherr verständlich zu machen, doch ein Donnergrollen schneidet dem Lehrer für Erdkunde und Sport das Wort ab.

Vermutlich artikuliert der Studienrat seine Begeisterung über die einmaligen Gelegenheiten, die das neue „Balkonkraftchancengesetz“ der Bundesregierung auch Geringqualifizierten auf dem Energiemarkt bietet.

Palmer everywhere

Hauseigentümer können ab sofort ganz frei entscheiden, welche Art von sauberer Energie in ihren staatlich geförderten Balkonkraftwerken erzeugt wird – und längst nicht alle optieren für die üblichen Solarpanele. Viele erweitern die Energiepalette wie der Tübinger Lehrer.

An Regentagen arbeitet nun die ehemalige Radsportlerin Kurkowa als selbstständige Stromversorgerin neben Ziergens Geranien, auf dem Balkon gegenüber hat eine Gruppe Afghanen – die Menschen, nicht die Hunde – Anstellung in einem Laufrad gefunden, das ein Achtsamkeits-Café im Erdgeschoss elektrifiziert, wenn das hauseigene Solarkraftwerk auf dem Dach nicht genug Saft bietet.

Die ehemaligen Ortskräfte der Bundeswehr nehmen am Programm „Duldung gegen Strom“ teil, das Tübingens oberster Mad Scientist und Bürgermeister Boris Palmer auf kommunaler Ebene schon vor Jahren ins Leben gerufen hat. „Wer zu Fuß aus dem Hindukusch zu uns kommt, kann auch noch ein paar Meter für die Umwelt machen“, kommentiert der langjährige Palmer-Wähler Ziergens und winkt den frondienstleistenden Fremdarbeitern aufmunternd zu.

Prio Priorität

„Die Energiewende hat absolute Priorität, dabei kann es auch mal Zumutungen geben. Wir müssen alle gemeinsam anpacken. Stichwort Deutschlandpakt“, erklärt ein Sprecher aus Habecks Wirtschaftministerium. Von „Ausbeutung“ mag der Pressebetreuer nicht sprechen. Lieber redet er von „Chancen“ – wie immer, wenn von Ausbeutung die Rede ist.

Doch die Wiedereinführung der Sklaverei durch die Hintertür der Klimakrise ist nur ein Nebeneffekt des Balkonkraftchancengesetzes, ein ärgerlicher handwerklicher Fehler, den das Ministerium „bedauert“.

Denn eigentlich soll die Verordnung den verkrusteten Energiemarkt, der noch immer von wenigen schwerfälligen Fossil-Dinosauriern beherrscht wird, endlich lindnergerecht und mit sauberem Doppelwumms durchliberalisieren und für innovative Anbieter öffnen.

Die wittern ihre Chance. Statt Makro-Windräder in der Landschaft sind plötzlich Mikro-Kraftwerke vor der Haustür gefragt. Erst seit einer Woche ist das Balkonkraftchancengesetz in Kraft, aber zumindest im Französischen Viertel ist kein Freilufterker mehr ohne eigene Stromerzeugungsanlage geblieben. Von allen Hausfassaden dampft, zischt und surrt es.

Reihenweise haben insolvente Craft-Bier-Brauer ihre ungenießbare Plörre in den Ausguss gekippt und maischen nun fäkale Biomasse in Braukesseln neben Sonnenschirmen. Es stinkt zum Himmel, aber in allen Wohnungen funzelt Licht. Ein paar Steampunks haben eine Dampfturbine aus Messing mit einem Zeppelin auf eine Dachterrasse gehievt. Kurze Zeit später explodiert das pfeifende Metall-Ungetüm und beendet das aufwendige Live-Rollenspiel sowie etliche analoge Leben.

Kaliumweiß

Auch die Atomindustrie mischt wieder mit, ihre Anwälte haben ein interessantes Schlupfloch im Gesetz gefunden: Da Balkone feuerpolizeilich als Ausstiege gelten, bleibt der beschlossene Atomausstieg formaljuristisch in Kraft, wenn man die Kraftwerke auf eben­jenen Ausstiegen errichtet. Seither erobert Atomkraft die Balkons, sogar auf Simsen und schmalen Brüstungen sieht man putzige kleine Reaktoren vor sich hinschmurgeln. Schon gibt es schicke Natrium- und Thoriumkraftwerke in Trendfarben wie cäsiumgelb und kaliumweiß zu kaufen, die sich in die Sitzlandschaften einfügen und zu den Stuhlhussen passen. Auf den bierkästengroßen Austritten der Studentenbuden knattern billige Minireaktoren aus China, die man nach Gebrauch als Grill benutzen kann, wenn sich die Brennstäbe um 1.500 Grad abgekühlt haben.

Doch nicht nur seriöse Firmen haben den Markt entdeckt. Manche Anbieter setzen auf alternative Alternativenergien, die kaum erforscht sind. Das Reichskristallkraftwerk „Isar 3“, das mit Bergkristallen aus der Hohlerde und Büchern befeuert werden sollte, blieb hinter den vollmundigen Heiz-Versprechen „Heute Deutschland, morgen die ganze Welt“ des Herstellers zurück, auch ein Aura-Kraftwerk musste mangels Charisma abgeschaltet werden. Immerhin das Biomassekraftwerk auf dem Balkon einer Kommunikationsagentur, das mit Bull­shit aus den sozialen Netzwerken betrieben wird, erzeugt jede Menge heißer Luft.

Radsportlerin Kurkowa hat indes ihre letzte Runde für den Tübinger Lehrer gedreht. Gerade wurde sie von Ziergens Nachbarn abgeworben. Nach einem Blick auf den Stromzähler haben die beiden preisbewussten Steuerberater nämlich beschlossen, ihre Wärmepumpe auf Handbetrieb umzustellen und auf dem Balkon zu montieren. Ab morgen fördert die ukrai­nische Athletin gegen Mindestlohn mit einer nostalgischen Schwengelpumpe aus Gusseisen Geothermie aus dem Erdinneren.

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