Drei Jahre nach der Explosion in Beirut: Ohne Gerechtigkeit bleibt das Trauma

Gedenken an die Explosion am Hafen: Bei Protesten fordern hunderte Menschen Aufklärung, noch immer ist niemand für das Geschehene belangt worden.

Menschen halten Bilder von Angehörigen hoch

Angehörige der Explosionsopfer beim Marsch Richtung Hafen Foto: Julia Neumann

BEIRUT taz | Vor der Beiruter Feuerwache steht ein Feuerwehrwagen mit Männern auf dem Dach, die zehn schwarze Plakate mit Fotos ihrer verstorbenen Kol­le­g*in­nen halten: „Gerechtigkeit“ steht darunter.

Am Abend des 4. August ging ein Notruf in der Zentrale ein. Zehn Feuerwehrleute fuhren an den Hafen, um einen Brand von Feuerwerkskörpern zu löschen. Einige Minuten später, um 18.07 Uhr Ortszeit, detonierten über 2.000 Tonnen Ammoniumnitrat im Lagerhaus 12. Die hochexplosive Verbindung lagerte trotz Warnungen der örtlichen Behörden fast sechs Jahre lang achtlos im Hafen.

Die Explosion zerstörte Fenster, Türen oder Hauswände, mindestens 220 Menschen starben, darunter auch viele ausländische Staatsangehörige. Rund 6.000 Menschen wurden verletzt, die Szenen der Zerstörung und Verzweiflung haben sich tief ins Gedächtnis der Beirutis gebrannt. Es gibt so viele tragische Geschichten von diesem Tag, dass ein Herz nicht genug ist, sie alle aufzunehmen.

Rund um die Beiruter Feuerwehrwache versammeln sich hunderte Menschen. Einige haben die libanesische Flagge in den Händen, zig Plakate mit ausgedruckten Fotos werden in der Menge hochgehalten, viele tragen Schwarz, manche weinen. Sie alle trauern um die bei der Explosion Getöteten, und sie protestieren für die Aufklärung der Geschehnisse.

Cedrik el Adm steht in der Nähe des Feuerwehrwagens, er hat ein weißes Schild bei sich, darauf das Bild seiner Schwester Krystel el Adm, die durch die Explosion ums Leben kam. „Noch kurz vor der Explosion hat sie einem Waisen einen Laptop gegeben, damit er studieren kann“, erzählt al Adm. Seine Stimme bricht kurz weg. Um die Erinnerung an seine Schwester am Leben zu halten, hat die Familie eine Wohltätigkeitsorganisation in ihrem Namen gegründet. „Heute haben wir 150 Kinder, die dank uns weiter zur Schule gehen.“

Auf der Aufnahme der damals 36-jährigen Krystel steht: „Opfer des Massakers aus Korruption und Vernachlässigung“. „Auch drei Jahre danach gibt es keine Gerechtigkeit“, sagt Cedrik el Adm, „sondern nur politische Behinderungen. Heute bin ich wütend, so wie alle um uns herum. Denn ein Land kann nicht aufgebaut werden, wenn es keine Gerechtigkeit gibt. Wir warten darauf, dass die internationale Gemeinschaft Druck ausübt, anstatt diesen korrupten Leuten Geld zu geben, damit sich etwas ändert.“

Am dritten Jahrestag der Explosion ist das Land der Gerechtigkeit keinen Schritt nähergerückt. Politische Akteure behindern die innerstaatliche Untersuchung – hauptsächlich die Partei und Miliz Hisbollah, ihre Verbündeten, der Justizminister und Generalstaatsanwalt.

Der zuständige Untersuchungsrichter, Tarek Bitar, hatte unter anderem den ehemaligen Premierminister Hassan Diab, den ehemaligen Innenminister Nouhad Machnouk, den früheren Finanzminister Ali Hassan Khalil und den Ex-Minister für öffentliche Arbeiten, Ghazi Zaiter, wegen Fahrlässigkeit mit Todesfolge angeklagt. Doch Bitar wird immer wieder durch Rechtsbeschwerden der mächtigen Politiker an seiner Arbeit gehindert. Seit zwei Jahren steht die Untersuchung still, der Generalstaatsanwalt hat alle 17 Verdächtigen aus dem Gefängnis entlassen.

„Die Verantwortlichen für die Explosion regieren immer noch das Land, als ob nichts geschehen wäre“, sagt Rania Bassil. Am Tag der Explosion arbeitete sie als Ärztin im Krankenhaus. „In den Wochen danach sind wir auf die Straßen und in die Häuser der Menschen gegangen, um ihnen zu helfen“, erzählt die 44-Jährige. Sie hält ein Schild hoch, darauf steht in roten Buchstaben: „Wir fordern eine internationale Untersuchungskommission.“ „Ich weiß, dass die Familien der Opfer nie darüber hinwegkommen werden, wenn sie nicht die Wahrheit erfahren. Es geht nicht nur um sie, sondern um ganz Libanon. Für das kollektive Gedächtnis können wir nicht so tun, als sei nichts geschehen.“ Eine Frau läuft vorbei und reicht Bassil eine weiße Rose. „Schade, dass wir nur am 4. August hier sind, wir sollten immer hier sein und Gerechtigkeit fordern.“

EU fordert unabhängige Untersuchungskommission

Das Europäische Parlament hat den UN-Menschenrechtsrat am 11. Juli aufgefordert, eine Resolution für eine unabhängige und unparteiische Untersuchungskommission zu verabschieden. Sie soll die Fakten, Umstände und Ursachen ermitteln, außerdem die Schuld des Staates und von Einzelpersonen feststellen sowie Entschädigung für die Opfer fördern. Am Donnerstag schickten Menschenrechtsorganisationen und Opferangehörige einen Brief an die Vereinten Nationen. Auch sie fordern den Menschenrechtsrat auf, eine unabhängige Untersuchungskommission nach Beirut zu entsenden.

Um 17 Uhr ertönt eine Feuerwehrklingel, aus Lautsprechern tönt die Nationalhymne, ein Blasorchester spielt, und der Protestzug marschiert Richtung Hafen. Die 27-jährige Reine Abirached ist unter den Protestierenden. Sie hat auf ein Kartonschild geschrieben: „Gerechtigkeit ist keine Hoffnung, Gerechtigkeit ist mein Recht.“ Der Satz stammt von Tracy Naggear, Mutter der 3-jährigen Alexandra, die bei der Explosion umkam. Abirached sagt: „Wir alle haben bei dieser Explosion Menschen verloren. Was passiert ist, war kein Unfall. So viele wussten davon und es gibt eine Wahrheit, die gefunden werden muss.“

Auch Abirached ist wütend, dass es keine politische Veränderung gibt. 2019 schlief sie aus Protest in Beirut auf den Straßen. Hunderttausende demonstrierten damals gegen die korrupten Politiker, die das Land durch Missmanagement und Korruption in den Bankrott geführt haben. Die führenden Köpfe in der Politik sind noch immer an der Macht und blockieren Reformen. „Ich habe so sehr geglaubt, dass sich alles ändert. Wir müssen diese Verbrecher loswerden.“

Im Libanon herrscht eine Kultur der Straflosigkeit. Hinterleute von Bombenanschlägen und Attentaten werden nur selten vor Gericht gestellt. Oberst Joseph Skaf, ehemaliger Direktor der Drogenabteilung des Hafens, warnte als einer der ersten vor der Gefahr einer Lagerung der Chemikalien im Jahr 2014. Er wurde 2017 unter dubiosen Umständen ermordet. Der Fotograf Joe Bejjany hatte den gefährlichen Hangar vor und nach der Explosion fotografiert, im Dezember 2020 wurde er erschossen und sein Telefon gestohlen. Der Aktivist und Herausgeber Lokman Slim wurde im Februar 2021 erschossen, zehn Tage nachdem er die Hisbollah beschuldigt hatte, dem syrischen Regime Ammoniumnitrat für Sprengstoff zur Verfügung gestellt zu haben.

Der Gedenkmarsch kommt auf der Straße oberhalb des Hafens zum Halt. Die Angehörigen der Opfer haben eine Bühne aufgebaut, sie lesen die Namen aller Gestorbenen vor. Im Hintergrund hupen Schiffe, die Menschen klatschen.

Es geht um ein akkumuliertes, kollektives Trauma, erklärt Psychotherapeutin Zeina Zerbé bei der Veranstaltung „Die Tragödie in Aktivismus verwandeln“ von Transparency International, einen Tag vor dem Gedenktag. „Wir brauchen ein Denkmal für die Opfer. Wir müssen mit Juristen, Ingenieuren, Psychologen und Therapeuten zusammenarbeiten. Wir müssen gemeinsame Räume für Diskussion und Dialog finden. Wir sollten die Geschichte nicht auslöschen, sie sollte beibehalten werden, um langfristig individuelle und kollektive psychologische Unterstützung zu schaffen.“

Vor den Silos, die abgebrannt als Mahnmal am Hafen stehen, herrscht um 18.07 Uhr für eine Minute Schweigen. Der Gedenktag ist Teil der Heilung, doch ohne Gerechtigkeit bleibt das kollektive Trauma.

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