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Queere Menschen in RusslandFehler im System

Mit dem Verbot der Geschlechts­angleichung erreicht die Kriminalisierung queerer Menschen neue Ausmaße. Der Fall der Künstlerin Yulia Tsvetkova.

Regenbogen mit Schaden, bei der Gay Pride in St. Petersburg 2014 Foto: Olga Maltseva/afp/getty images

Russland verbietet die Geschlechtsangleichung. Vor einigen Tagen verabschiedete die Staatsduma ein Gesetz, das nicht nur entsprechende Operationen unter Strafe stellt, sondern auch Hormonbehandlungen unmöglich macht. Bestehende Ehen mit Transpersonen werden für ungültig erklärt, die Änderung des Geschlechtseintrags im Pass wird verboten.

Mit dem Gesetz ist ein neues Ausmaß der Kriminalisierung erreicht. Die neuere Geschichte der queerfeindlichen Gesetzgebung reicht jedoch bis ins Jahr 2006 zurück: Damals wurde im Oblast Rjasan nahe Moskau erstmals das Sprechen über Homosexualität gegenüber Minderjährigen kriminalisiert.

Bis 2013 folgten elf weitere Regionen. Es war ein schleichender Prozess, bis 2013 von der Duma auf föderaler Ebene das Grundlagenreglement heutiger „queerfeindlicher“ Gesetzgebung erlassen wurde: Das Gesetz zum Verbot der „Propaganda von nicht­tra­di­tionellen sexuellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen“. Gleichgeschlechtliche Liebe war in Russland erst 1993 entkriminalisiert worden, seit 1999 wurde sie nicht mehr als Geisteskrankheit eingestuft.

Das 2013 in Kraft getretene Gesetz zum Verbot der „homosexuellen Propaganda“ untersagte zunächst „nur“ das Sprechen über gleichgeschlechtliche Liebe gegenüber Minderjährigen. Was sich als Schutzmaßnahme für Minderjährige geriert, gefährdet sie jedoch durch Stigmatisierung, da Aufklärungs- und psychologische Angebote unterbunden werden. Zunächst nutzten NGOs und Medien die Altersangabe 18+, um sich gegen mögliche Verfolgung abzusichern.

Folgenreiche Verschärfung 2022

Neben zahlreichen Gesetzesänderungen erfolgte im Dezember 2022 eine weitere folgenreiche Verschärfung: Von nun an stand jede neutrale oder positive Erwähnung von Queerness in der Öffentlichkeit und das Weitergeben von Informationen über Geschlechtsangleichung an minderjährige Personen unter Strafe. Außerdem waren die Sätze für Geldstrafen erneut angehoben worden. Doch viel gefährlicher war: Jegliches öffentliche Sprechen über Homosexualität wurde mit Pädophilie gleichgesetzt und ist somit Bestandteil des Strafrechts, nicht mehr des Zivilrechts.

Für queere Menschen bedeuteten diese Verschärfungen der letzten Jahre eine Zunahme gesellschaftlicher Ausgrenzung, struktureller Diskriminierung und Gewalt. Der Fall Yulia Tsvet­kovas, einer 30-jährigen russischen Künstlerin, Queeraktivistin und Jugendtheaterregisseurin, sorgte in den letzten drei Jahren für internationale Empörung und Anteilnahme.

Die inzwischen in Russland verbotene Menschenrechtsorganisation Memorial wie auch Amnesty International hatten der Aktivistin den Status einer politischen Gefangenen verliehen. Solidaritätsaktionen, Straßendemonstrationen vor der Russischen Botschaft in Berlin und die Einrichtung der Info-Website „Free Yulia Tsvetkova“ machten auf ihren Fall aufmerksam.

Für das Erstellen und Veröffentlichen queerfeministischer Zeichnungen unter anderem in sozialen Medien drohten der jungen Aktivistin aus Chabarowsk bis zu sechs Jahre Haft. Ende November 2022 kam Bewegung in das Verfahren und mit ihr die Erleichterung: der Freispruch.

Was war zuvor geschehen?

Yulia Tsvetkova war im November 2019 in ihrer Heimatstadt Komsomolsk am Amur, im Osten Russlands, von der Polizei verhaftet und verhört worden. Es folgten Hausarrest, mehrere Gerichtsprozesse, Schikane und schließlich ein Hungerstreik. Der in dem Hauptprozess erhobene Vorwurf lautete auf „Herstellung und Verbreitung von pornografischem Material“ nach Paragraf 242 (3 b) des russischen Strafgesetzbuchs. Die Nebenanklagen bezogen sich auf den Vorwurf der Propaganda „nichttraditioneller Beziehungen“.

Nach dreijähriger Prozessdauer schließlich bestätigte Ende November 2022 – einen Monat vor der folgenreichen Verschärfung des Gesetzes zur „homosexuellen Propaganda“ – das Landgericht Chabarowsk in einer Berufungsverhandlung den im Juli 2022 in erster Instanz ergangenen Freispruch, und zwar trotz vielfacher Bemühungen der Staatsanwaltschaft, das Verfahren zu verlängern. Neben dem Hauptverfahren wurde sie allerdings im Rahmen dreier weiterer Anklagen mit Geldstrafen belegt.

Die Kinder- und Jugendtheatergruppe, die Yulia Tsvetkova leitete, wurde 2019 Ziel einer queerfeindlichen Kampagne. Ihre Gruppe erarbeitete ein Performancestück mit dem Titel „Blau und Rosa“, das sich gegen geschlechterbasierte Vorurteile und Diskriminierung wendete. Nach Polizeiermittlungen durfte Tsvetkova ihre Arbeit nicht fortsetzen und die Theatergruppe, die sie 2018 gründete, musste ihre Arbeit ebenfalls einstellen. Der Vorwurf „Propaganda für nichttraditionelle sexuelle Beziehungen zwischen Minderjährigen“ stand schmähend im Raum.

Die von Tsvetkova gezeichnete Bilderserie „Женщина Не Кукла“ („Woman is not a doll“) widmet sich dem Thema der Körperpositivität. Zu sehen sind selbstbewusst lächelnde weibliche Figuren, die etwa menstruieren, schiefe Zähne haben, Behaarung, Falten, Speckrollen, Knochen, Pickel, Muskeln. Gegen eben jene Zeichnungen Tsvetkovas wurde der Vorwurf der Herstellung von „pornografischem Material“ laut.

Prominente Rus­s*in­nen verurteilten Vorgehen der Justiz

Tsvet­kova publizierte ihre Arbeiten in sozialen Netzwerken. Viele prominente Rus­s*in­nen aus dem Show- und Mediengeschäft, Men­schen­recht­le­r*in­nen und Po­li­ti­ke­r*in­nen hatten vor dem 24. Februar 2022, dem Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine, das Vorgehen der Justiz gegen die Künstlerin verurteilt, die aufgrund der körperpositiven Serie zu einer Geldbuße von 75.000 Rubel verurteilt wurde.

Die Anklage und die drohende Haftstrafe von sechs Jahren riefen vielfach Reaktionen von Künst­le­r*in­nen hervor, wie etwa von der zeitgenössischen russischen Dichterin Galina Rymbu. Sie veröffentlichte auf dem ukrainischen Portal ShO das Gedicht „Meine Vagina“ (russisch „МОЯ ВАГИНА“), mit der Hashtag-Markierung unterhalb des Gedichts „Für Yulia“ („#заЮлю“).

Das Gedicht von Galina Rymbu spielt auch stilistisch auf die von Yulia vormals betriebene gleichnamige Gruppe im russischen Facebook-Äquivalent („Vkontakte“) „Vagina-Monologe“ („Монологи вагины“) an, in dem sie durch Postings verschiedener künstlerischer Vagina- und Vulvadarstellungen gegen Stigmatisierung (wie etwa der Menstruation) vorgehen und zur Erkundung des weiblichen Organs motivieren wollte.

Wenn auch von der ausgebildeten Theaterpädagogin Yulia Tsvetkova selbst nicht ausgewiesen, so stellen sich ihre Vagina-Monologe in die Tradition des gleichnamigen Theaterstücks und Buchs der New Yorker Theaterautorin Eve Ensler, „The Vagina Monologues“, uraufgeführt als Soloperformance in New York 1996. Dreieinhalb Jahre wurde es anschließend am Off-Broadway gespielt, Eve Ensler erhielt zahlreiche Preise; in Russland gab es Adaptionen im DOK-Theater 2018 (Moskau) und in der Erarta-Scena 2016 (Sankt Petersburg).

Kampfansage an Militarismus und autoritäre Männer

In dem 2021 geschriebenen Gedicht von Galina Rymbu avanciert die Vagina zu einer Kampfansage an Militarismus und imperialistische, von autoritären Männern gemachte Kriege und Machtansprüche. Es liest sich unter den Vorzeichen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auch als ein feministisches Antikriegsgedicht, von einer russischsprachigen und in Omsk geborenen Schriftstellerin, die allerdings seit vielen Jahren in Lviv lebt und deren Großeltern aus der Ukraine nach dem Holodomor nach Sibirien fliehen mussten.

Das Jugendtheater „Merak“ von Tsvetkova hat sich als pazifistisches Projekt verstanden, da es noch vor dem Ukrainekrieg öffentlich zu Antikriegs-Film­aben­den einlud oder in dem Jugendtheaterstück mit dem ironischen Titel „Segne den Herrn und seine Munition“ die Gefahr von Waffen erarbeitete. Galina Rymbu und Yulia Tsvetkova kritisierten in ihren Vagina-Monologen die Oligarchie, das Patriarchat, die Militarisierung der russischen Gesellschaft und eine von Männern dominierte Politik, die andere Länder angreift und unterjochen will.

Die Verschärfung im Inneren gegen Queers als Ab­weich­le­r*in­nen ist Symptom eines Krieges, der seit 2014 gegen ein Land geführt wird, das seine Unabhängigkeit in Anlehnung an die Menschenrechte der EU sucht und sich auf die Werte „des Westens“ bezieht, der von Russland seit Jahren dämonisiert wird. Die Queerfeindlichkeit in Russland lässt sich daher durchaus als ideologische Kriegsvorbereitung und kriegspolitische Strategie lesen.

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