Dokumentarfilm „Gehen und Bleiben“: Begegnungen im Johnson-Kosmos
Regisseur Volker Koepp begibt sich auf die Spuren des mecklenburgischen Schriftstellers Uwe Johnson. Dabei trifft er sehr unterschiedliche Menschen.
„Und was haben Sie gemacht im Leben?“, fragt Volker Koepp. Der Angesprochene, ein älterer Mann, wohnt in einem Haus, in dem auch der junge Uwe Johnson ein paar Jahre lang gelebt hat. Mit Holz habe er gehandelt, erzählt er, und zwei Jahre lang in der DDR für den „Landfilm“ Kino gemacht.
Das interessiert den Filmemacher Koepp, und so reden die beiden über die damals benutzten Filmprojektoren. Koepp fragt den anderen, welches damals sein Lieblingsfilm gewesen sei. Dann erkundigt er sich noch nach der Katze, die ums Stativ herumstreicht, und mit einem Schwenk nach unten endet die Sequenz. Über Uwe Johnson, um den es doch gehen soll, haben wir nur wenig erfahren – umso mehr über die Art und Weise, wie Volker Koepp Filme macht.
„Im Film begegnen wir …“, so steht es im Abspann von „Gehen und Bleiben“; es folgt die Liste der von Koepp Befragten sowie der Orte, an denen das passiert ist. Dieses „wir“ aber bezeichnet nicht nur den Regisseur und sein Team, sondern auch uns: all jene, die den damit endenden Film angesehen haben.
Denn das liefert „Gehen und Bleiben“ tatsächlich: Die Erfahrung, den Menschen zu begegnen, die Koepp trifft und voller Neugierde in Gespräche verwickelt. Das kann eine Gruppe von Punks sein, an einem Hafenkai an der Ostsee in der Sonne sitzend; oder der Filmregisseur Hans-Jürgen Syberberg, der auf dem Anwesen seiner Familie im vorpommerschen Nossendorf auf einer Gartenbank ein Audienz gewährt.
Auch in diesem Gespräch wird Uwe Johnson nur nebenbei erwähnt. Aber wenn Syberberg von sich erzählt, seinen Kriegserfahrungen als Jugendlicher in Mecklenburg, seinem Weggang und seine Rückkehr, dann spiegelt sich darin Johnsons Leben.
Syberberg ist nur ein Jahr jünger als der 1934 in Cammin, Pommern, geborene Johnson, beide wurden Künstler, machten Erfahrungen in der frühen DDR, in der sie aber nicht blieben; beide sind nach Westdeutschland gegangen, Johnson lebte zeitweise in New York. Doch Johnson ist 1984 jung gestorben, in England, während Syberberg eine Ahnung davon ermöglicht, wie er vielleicht heute leben würde, als über 80jähriger anerkannter Schriftsteller.
Auch der Schauspieler Peter Kurth erzählt von seiner Jugend in Mecklenburg; davon, wie es ihm dort zu eng wurde, wie er ging, um anderswo Karriere zu machen – und dann wiederkehrte. Wenn er aus dieser Erfahrung heraus nun Texte Johnsons kommentiert, ist dies auch deshalb außergewöhnlich, weil er für den Film auch Johnson’sche Originalzitate eingesprochen hat: Er ist also Protagonist wie auch Teil der Crew.
Ein Beispiel dafür, wie spielerisch Volker Koepp mit Regeln und Konventionen des Dokumentarfilms umgeht. So dreht er weiter, wenn die meisten Filmemacher*innen abgebrochen und neu angefangen hätten: Als während eines Gesprächs auf einem Marktplatz plötzlich ein Wolkenbruch niedergeht, öffnet der Gesprächspartner einfach einen Regenschirm und redet etwas lauter, um das Prasseln zu übertönen. Es geht Koepp um den Moment, der genau so eben nicht zu wiederholen ist, und den er so unmittelbar wie möglich im Film haben möchte.
Dabei sind so gut wie alle seine Aufnahmen arrangiert: Er stellt oder setzt seine Protagonist*innen in für sie typische und filmisch reizvolle Positionen und befragt sie aus dem Off. In diesem Rahmen fängt er die erstaunlich ungefiltert wirkende Realität ein – weil, eben, eine Katze im Bild für ihn ebenso wichtig ist wie ein Geburtstagsgeschenk Johnsons an einen alten Studienfreund. Dass es sich dabei um eine Plastikflöte handelt, auf der eine Katze einen in seinem Käfig singenden Vogel bedroht, ist eine von zahlreichen Assoziationsketten, die dazu verführen, immer genau hinzuschauen; dadurch wirkt der Film trotz seiner 168 Minuten nie lang.
“Gehen und Bleiben“, Regie: Volker Koepp, Deutschland 2023, 168 Minuten.
Hamburg-Premiere in Anwesenheit des Regisseurs: 19. Juli, 18.45 Uhr, Metropolis. Der Film kommt ab 20. Juli in die Kinos
Wenn zum Beispiel Peter Kurth eine längere Textpassage Johnsons vorliest, in der es um den Untergang des Passagierdampfers Cap Arcona geht, bei dem am 3. Mai 1945 in der Lübecker Bucht Tausende Häftlinge aus dem KZ Neuengamme ertranken, dann verleiht das später im Film Koepps Aufnahmen eines halbversunkenen Schiffswracks vor der Küste von Sheerness on Sea in Kent, Johnsons letztem Wohnsitz, eine zusätzliche, tiefere Bedeutung.
Gedreht hat Koepp seinen Film in den Zeiten von Corona wie auch des Krieges in der Ukraine, und auch das hat er in ihn eingeschrieben: Ein Gespräch beginnt er mit den Worten: „Dies ist ein merkwürdiges Jahr“; und der Sohn eines Pastors aus Güstrow, zu dessen evangelischen Jugendkreis der junge Johnson gehörte, vergleicht dessen Texte mit den Filmen Andrei Tarkowskis, über die er selbst seine Doktorarbeit schrieb. Für ihn sind beide heute wieder aktuell, weil sie eine Zeit beschrieben, die wir Nachgeborenen schon für überwunden hielten – aber: „Man hat sich ein wenig zu früh gefreut!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Telefonat mit Putin
Falsche Nummer
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen