Parkour-Szene in Deutschland: Auf die Barrikaden

Früher war Jakob ängstlich, heute macht er Überschläge. Doch Parkour weckt auch andere Interessen – gegen Olympia­pläne regt sich Widerstand.

Ein Athlet macht einen Salto

Vertrauen in seine Fähigkeiten entwickeln: ein Bewegungskünstler in Aktion Foto: Parkour.org

DRESDEN taz | Jakob wärmt sich auf. Er streckt sich, balanciert und hält ab und zu inne, um die Umgebung zu studieren. Auf seinem Kopf trägt er einen Stoffhut, den er mit einem Bändchen unterm Kinn locker fixiert hat. Jakob streicht über Oberflächen und sagt Dinge wie: „Ja, das könnte klappen, der Grip ist okay.“ Dann beugt er sich über eine 1,30 Meter hohe Mauer, schaut sie sich von allen sichtbaren Seiten an, tastet sie ab. Er hat seinen Spot gefunden, hier, am Rudolf-Harbig-Stadion in Dresden. Ein Spot ist ein Ort, wo er bestimmten Techniken anwenden, trainieren kann: Hangeln, Springen, Klettern.

Jakob ist Traceur. So nennen sich Sportler und Sportlerinnen, die Parkour laufen. Der 21-Jährige ist groß, fast 2 Meter, und breit ist er auch geworden, wie er von sich selbst sagt. Er möchte nur mit seinem Vornamen in der Zeitung stehen. Sein T-Shirt ist mit weißen Lettern bedruckt: „die Kunst der Bewegung“ steht dort auf Englisch. Das ist der einzige Akzent seiner Kleidung; ansonsten trägt er schwarz.

Jakob entfernt sich ein paar Schritte von der Mauer, und rennt dann unvermittelt wieder auf sie zu. Aus vollem Lauf umschließt er mit beiden Händen die obere Fläche und hechtet mit seinen Beinen in der Mitte durch. Diese Bewegung heißt „Cong“. Sieht leicht aus, ist es aber nicht.

Später wird klar, dass dieser Sprung nur ein Teil der Aufwärmung war. Ein einzelnes Element zu überwinden, ist im Parkour sozusagen langweilig. Meist überlegen die Traceure und Traceurinnen sich eine „Line“: Sie verknüpfen mehrere Hindernisse und versuchen, möglichst geschmeidig (Flow) und formschön (Technik) darüber hinwegzukommen.

Alles beginnt in Frankreich

Die Geschichte dieses Sports beginnt um 1980 in Frankreich. Dort hatte der junge David Belle Techniken von seinem Vater erlernt. Die sogenannte Méthode Naturelle half dem Vater durch den Dschungel zu fliehen – als einstigem Kindersoldaten im Vietnamkrieg. Sein Sohn entwickelte daraus den Parkour, indem er die Techniken an die Architektur einer Stadt anpasste. Im Laufe eines Jahrzehnts verbreitete sich die Bewegungsform in Frankreich und wurde schließlich auch im Rest Europas und den USA bekannt.

Laut Deutschem Turnerbund ist Parkour „die Art, sich möglichst effizient, nur mit den Fähigkeiten des eigenen Körpers fortzubewegen“. Das Training führe nicht zwangsläufig zu einem Wettkampf, es gehe vielmehr um eine gelebte Kunstform. Der Verband kooperiert mit der Parkour-Szene und richtet Veranstaltungen aus. Der Weltturnverband (FIG) hat vergeblich versucht, für die Aufnahme dieser Sportart bei den olympischen Spielen 2024 zu sorgen. Im Jahr 2022 wurde in Tokio erstmals eine Weltmeisterschaft ausgetragen. Als einziger Deutscher belegte Andy Haug den 34. Platz. Die Frage, ob Wettbewerbe überhaupt stattfinden sollten, löst unter Verbänden und Aktiven seit Jahren Kontroversen aus.

Max Rieder sagt: „Der Gegner ist man nur selbst.“ Rieder ist einer der Gründer vom Verein Parkour.org am Standort Dresden. Das ist das größte Park­our-­Netzwerk Deutschlands mit 2.000 Mitgliedern in insgesamt acht Städten. Dieses Netzwerk sieht die Wettbewerbsorientierung von Parkour kritisch. „Parkour ist mehr Fortbewegungsart als Sport, mehr Lebenseinstellung als bloße Kür.“ Die Kunstform, die Philosophie des Parkour würde durch Turnier und Kommerz bedroht.

Mit Parkour kann man nicht anfangen -nur aufhören

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Aktuell gibt es daher eine Gründungsinitiative für den Parkour Deutschland Verband, der am 22. Juli tagen wird. Max Rieder sagt: „Es ist besser, einen eigenen Verband zu gründen, um die Interessen wenigstens von Leuten zu vertreten, die in der Szene aktiv sind.“ Ohne Lobby hätten sie sich als Verein und als Parkour-Szene von dem Weltturnverband FIG bevormundet gefühlt.

Max Rieder ist neben Vereinsvorstand auch Traceur. Die Frage, wann er mit Parkour begonnen hat, beantwortet er mit einer Gegenfrage: „Wann hast du aufgehört?“ Man könne gar nicht anfangen, weil die meisten Kinder genau wie ein Traceur balancieren, klettern und springen. Durch gesellschaftliche Normen werde es uns ab dem Erwachsenwerden nur abgewöhnt: keine Spielplätze ab 12 Jahren, keine Klettereinlage auf den Baum – das macht man nicht.

Doch Parkour darf und macht genau das.

Max Rieder, Vereinsvorstand

„Parkour ist mehr Fortbewegungsart als Sport, mehr Lebenseinstellung als bloße Kür“

Vielleicht nehmen die Sportler und Sportlerinnen Parkour deswegen als Philosophie wahr: Diese Kunst der Fortbewegung bricht mit Konventionen. Die Kinder, Jugendlichen, Erwachsenen, die bei Parkour.org trainieren, sollen eine eigene Motivation entwickeln etwas zu lernen. In seinem Verein, berichtet Rieder, gehe es daher manchmal chaotisch zu. Es gebe niemand, der Dinge vorturnt. Es gebe auch keine genaue Vorstellung, wie das Ergebnis zu sein hat. Der Trainer, Dominik Schmoll, drückt es so aus: „Wir stellen fest, dass die Neuen erst mal total überfordert damit sind, keine Struktur zu haben. Das kennen sie gar nicht.“ Um die eigenen Grenzen und auch Fähigkeiten zu entdecken, sei es aber unerlässlich, dass die jungen Traceure in ihrem eigenen Tempo lernen.

Sie bereiten sich mental und körperlich vor und könnten sich bald besser einschätzen. Die Traceure lernen potenziell sehr gefährliche Techniken. Gleichzeitig lernen sie, Vertrauen in sich selbst zu entwickeln. Dominik Schmoll sagt: „Wenn du dich entscheidest, etwas zu tun, ist es zu 100 Prozent erledigt.“ Der Verein sei gerade für die Minderjährigen als ein geschützter Raum wichtig, um in den Sport zu finden, sagt Max Rieder.

Parkour als eine Art, mit der Umwelt in Kontakt zu sein

Auch Jakob ist im Laufe der Jahre an diesem Sport gewachsen. Die Angst zu überwinden, sei beim Parkour der größte Gegner für ihn. „Ich war früher sehr ängstlich, habe mich nicht getraut irgendwo herunterzuspringen“, sagt er. Über einen Kumpel sei er mit 18 Jahren dann zum Parkour gekommen. „Ich habe über diese Techniken sehr viel Vertrauen in meinen Körper gewonnen und konnte mich neu kennenlernen.“ Manchmal sei die Angst auch wichtig, um die Gefahren zu erkennen.

Aus dem sicheren Umfeld einer Halle heraus kann später auch draußen trainiert werden. Beide Profis von Parkour.org sind sich einig: „Irgendwann schärft sich der Blick. Parkour ist eine bestimmte Art, die Umwelt zu sehen und mit ihr in Kontakt zu sein“. Um die Techniken wirklich anwenden zu können, müsse sogar draußen trainiert werden. Das bestätigt auch Jakob: „Nur dort kann man wirklich Progress machen.“

Am Stadion, Jakobs Spot in Dresden, befindet sich eine Treppe mit etwa 20 Stufen. Für die Fanmassen bei Fußballspielen ist sie ziemlich breit angelegt. An diesem Montag kommt hier nur ein Hase vorbei gehoppelt, ansonsten ist nichts los. Im Abstand von zwei Metern sind metallene Geländer angebracht. Sie unterteilen die Treppe in Abschnitte.

Jakob sieht in einer Treppe mittlerweile mehr als nur Stufen für die Füße.

Am Treppenabsatz schwingt er sich auf das gerade Ende des Geländers. Zu seiner Rechten geht es abwärts, links hört das Geländer auf. Sein Gesicht zeigt nicht hinab, sondern zur nächsten Halterung in zwei Metern Entfernung. Mittlerweile hat er sich eine „Line“ ausgedacht; das war die Performance, bei der man mehrere Hindernisse miteinander verknüpft. Jakob steht am Startpunkt. Er streift mit der Hand über seine Schuhsohlen, befreit sie von Steinchen, und redet sich Mut zu. Sein Körper ist gespannt, seine Knie leicht gebeugt. Dann zählt er herunter: „Drei, zwei, eins.“ Und springt. Von einem Geländer zum nächsten und zum nächsten landet er präzise mit beiden Füßen. Am Ende legt er noch einen Flip hin, einen Salto, und springt mit dem schon geübten Cong über eine Mauer.

An dieser Stelle könnte man einwenden, dass diese Bewegungen zwar kunstvoll sind, effi­zient aber eher nicht. Schließlich könnte Jakob auch einfach neben der Treppe entlanglaufen.

Gravitation sucks Jam in Hamburg

Es gibt Unterschiede zwischen Parkour und anderen Bewegungsformen wie Tricking oder Freerunning. Während Park­our die puristische Art ist, die aus dem Fluchtgedanken entsprungen ist, können andere Kunstformen um Elemente bereichert sein, die eher der Show dienen. Ein Flip zum Beispiel ist nicht Teil des klassischen ­Parkours. Jakob aber macht sich darüber nicht viele Gedanken. Es geht ihm um den Sport und den Spaß. Ihm ist nicht so wichtig, wo die Trennlinie ist. „Für mich ist alles Parkour“, sagt er.

Vom 4. bis 6. August findet in der Gleishalle in Hamburg eine Jam statt. Laut Veranstalter ist dieses Ereignis das weltweit größte Vernetzungstreffen der internationalen Parkour-Gemeinschaft.

Sowohl Anfänger und Anfängerinnen als auch Profis der Szene aus über dreißig Ländern werden erwartet. Über drei Tage wird trainiert, gegessen und geschlafen. Es gibt eine Spottour durch Hamburg, wie auch Massage und Physiotherapie.

Jakob vermutet: „Das wird richtig geil.“

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