Die Wahrheit: Der große Wurf mit Krückstöcken
Pop-Fans bewerfen ihre Idole neuerdings mit Gegenständen. Lassen sich Stars auf der Bühne überhaupt besser schützen?
Ein bizarrer Trend auf Konzerten greift um sich. Während eines Auftritts von Lil Nas X beim Lollapalooza Stockholm landete ein Sexspielzeug auf der Bühne, Sängerin Bebe Rexha wurde von einem Handy am Auge getroffen, Harry Styles von einer Süßigkeit, und Superstar Pink zeigte sich fassungslos, als ein Fan ihr eine Tüte mit der Asche seiner Mutter überreichte, nachdem ein anderer ihr einen riesigen Laib Brie übergeben hatte.
Wer hat den Käse zum Stadion gerollt?, fragt man sich da, und vor allem: Warum? „Nach dem Ende der Coronapandemie, als Veranstaltungen nur virtuell oder allenfalls unter strengen Abstandsregeln durchgeführt werden durften, mussten viele Menschen erst wieder lernen, was es heißt, in der Nähe von leibhaftigen Performern zu stehen“, weiß Lydia Anger vom Lehrstuhl für Verhaltenspsychologie der Uni Köln. „Viele fragen sich: Ist das gerade echt? Überprüfen können sie das am besten, indem sie Objekte in Richtung der Künstlerin fliegen lassen und beobachten, ob und wenn ja, was dann passiert.“
„Man sollte das Geschmeiß nicht überbewerten“, meint hingegen Timo Maas, ehemaliger Kugelstoßer und Autor des Sachbuchs „Wer ohne Sünde ist …“, das man derzeit bei Hugendubel hinterhergeworfen bekommt. Der Experte verweist auf unsere nächsten genetischen Verwandten: „Schimpansen gehen nie auf Konzerte – das dürfen sie gar nicht, wie ich auf die harte Tour lernen musste. Trotzdem schleudern sie gelegentlich ihre eigenen Exkremente auf Artgenossen. Oder auf Zoobesucher. Auch das musste ich auf die harte Tour lernen.“
Dennoch scheint hinter einigen der rezenten Attacken ein tieferer Sinn zu stecken. „Womöglich wollen die Zuhörenden den Künstlern auch nur zuvorkommen“, mutmaßt Verhaltensforscherin Anger. „Bevor man einen Drogencocktail aus Till Lindemanns Peniskanone oder von Roger Waters vergiftete Matze in den offenen Mund gezwoscht kriegt, wagt man halt den Erstschlag.“
Vorpüriertes Fledermausfleisch für Ozzy Osbourne
Auch Altruismus mag dahinterstecken. Bevor etwa Ozzy Osbourne seine Abschiedstournee 2023/24 aus gesundheitlichen Gründen endgültig absagen musste, ließen umsichtige Fans Konservendosen mit vorpüriertem Fledermausfleisch auf die Bühne reichen, aus Sorge um den Zustand der dritten Zähne des Altmetallers.
US-Rapper Post Malone wehen hingegen ständig Visitenkarten von dermatologischen Spezialpraxen entgegen: Die mitgeschleppten Eltern minderjähriger Konzertgänger wollen, „dass der junge Mann sich diese grausigen Gesichts-Tattoos entfernen lässt, sonst findet der doch nie einen Job“, so der O-Ton einer besorgten Mutter.
Lediglich helfen wollten auch diverse Zuschauerinnen und Zuschauer, als sich neulich Helene Fischer bei einer Trapez-Nummer während eines Auftritts in Hannover den Schädel stieß. Am Ende floss Blut – jedoch nicht als Folge der missglückten Akrobatikeinlage, sondern weil der 38-Jährigen prompt mehrere Erste-Hilfe-Koffer an die Stirn knallten. Herrliche Ironie!
Überhaupt ist das Phänomen längst in Deutschland angekommen. Bei Pur-Konzerten beispielsweise ist es Brauch, dass sich das Publikum vor dem letzten Song gemeinschaftlich die Ohrstöpsel rausnimmt und auf die Bühne pfeffert: ein subtiles Zeichen von Willensstärke, Leidensbereitschaft und Ermutigung.
Die in der Covidkrise mit fragwürdigen Aussagen aufgefallene Nena wiederum lässt sich neuerdings bei jedem Gig mit FFP2-Masken bewerfen: „Die werde ich alle in der Öffentlichkeit tragen, ihr Mäuse. Ich lasse mir die Dinger nicht verbieten!“
Schabernack nicht für Senioren
Solcher Schabernack ist dem Schlager-Duo Amigos fremd. „Unsere Fans sind in der Regel zu gebrechlich, die können nicht mal ein Feuerzeug halten“, winkt Karl-Heinz Amigo, 74, ab und sammelt Massen von Krückstöcken auf der Bühne ein.
Präventiv ging seinerzeit der unvergessliche Udo Jürgens vor. Getreu dem Motto „Wer am Glasklavier sitzt, soll nicht mit Steinen beworfen werden“, sang er lieber Abend für Abend „Vielen Dank für die Blumen“ und gab damit die buchstäbliche Stoßrichtung vor. Dass ihm im Laufe seiner Karriere immer wieder Säuglinge vor die Füße katapultiert wurden, konnte der umtriebige Bademantelträger indes nicht verhindern; nicht weniger als 18 uneheliche Kinder wurden ihm auf diese Weise zugeführt.
Wird der „Terror der Schmeißfliegen“, wie Buchautor Timo Maas es nennt, in absehbarer Zeit abflachen? Wohl eher im Gegenteil: Auch bei anderen Veranstaltungen flattert nun so einiges durch die Luft. Auf den Fashion Shows von Victoria’s Secret werden die Unterwäsche-Models immer wieder von älteren Herren mit Tom-Jones-Platten beworfen. Bei Fifa-Auslosungen segeln die Bestechungs-Schecks inzwischen völlig schamlos durch den Saal, weil eh alles egal ist. Und im Bundestag fliegen derweil die Fetzen, ganz ohne Popminister.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Plan für Negativ-Emissionen
CO2-Entnahme ganz bald, fest versprochen!
Human Rights Watch zum Krieg in Gaza
Die zweite Zwangsvertreibung