An ALS erkrankter Gerstensaft-Fan: Halt mein Bier
Markus Weber liebt Bier, fränkisches vor allem. Er ist gesellig, doch unheilbar krank. Er kann sein Bierglas nicht mehr selbst greifen.
Sonntage sind Feiertage im Leben von Markus Weber. Es geht dann aber nicht etwa in die Kirche, sondern ohne Umweg gleich ins Paradies, ins Landbierparadies. Die Nürnberger Kneipe ist Webers gelobtes Land, und wer braucht schon Milch und Honig, wenn er Kellerbier haben kann? Man kennt Markus Weber dort, er hat seinen Stammplatz und seinen Lieblingskellner, der manchmal sogar den verantwortungsvollen Job übernimmt, ihm den Bierkrug anzureichen.
Dass Weber zum letzten Mal selbst ein Bier in der Hand gehalten hat, ist sechs, vielleicht auch sieben Jahre her, auf jeden Fall schon eine ganze Weile. Seine Muskeln spielen nicht mehr mit. Weber hat Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), 2015 wurde die Nervenkrankheit bei ihm diagnostiziert. Sie gilt als unheilbar, die Lebenserwartung liegt bei zwei bis fünf Jahren. Weber ist inzwischen bei acht. Im Fußball, dem Sport, den er so liebt, würde man von Verlängerung sprechen.
Als Franke hat Markus Weber eine traditionell innige Beziehung zum Bier. In Deutschland gibt es etwa 1.300 aktive Brauereien, 300 davon allein in Franken. Bier wird dort nicht einfach nur getrunken, es wird zelebriert. Bei schönem Wetter geht man „auf den Keller“ (wie die Biergärten dort heißen), es gibt Bier-Wanderwege, Bier-Diplome und Bier-Stadtführungen. Und bei Facebook eine Gruppe, die so viel Enthusiasmus schon im Titel auf den Punkt bringt: „Wir lieben Bier aus Franken!“
Dort werden Fotos von prall gefüllten Kühlschränken geteilt und Empfehlungen für den nächsten Wochenendausflug, manche Mitglieder versuchen sich auch an Verkostungsnotizen – aber bitte kurz und prägnant. Schreiben ist Silber, Trinken ist Gold. Die Gruppe hat knapp 40.000 Mitglieder, Männeranteil: gefühlte 90 Prozent. Männer, denen man besser kein Krombacher vorsetzen sollte. Selbst das – immerhin fränkische – Kulmbacher gilt ihnen schon als Industrieplörre.
Markus Weber ist einer von ihnen. „Köstliches Fassbier vom Löwenbräu serviert vom Pfleger Lukas Viele Grüße nach Adelsdorf“, schreibt er etwa. Oder: „Heute gibt es gegen Bielefeld ein Weiherer Kellerbier“. Denn „Glubberer“ ist Weber als Nürnberger selbstredend auch. Zu den Texten postet er jeweils ein Beweisfoto, häufig trägt er darauf ein Shirt des 1. FC Nürnberg, und immer eine Kanüle im Hals, an der ein Beatmungsschlauch hängt. Seit 2020 hat Weber einen Luftröhrenschnitt, seitdem trinkt er per Strohhalm.
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Warum er in der Gruppe so aktiv ist? „Der Erfolg war der Ansporn.“ Mit jedem Foto erntet Weber Dutzende Kommentare und Hunderte Likes. Den Kampf gegen seine Krankheit kann er nicht gewinnen – und trotzdem sieht er bei jedem Bier, das er ihr abtrotzt, wie ein Sieger aus.
Markus Weber ist ein geselliger Typ mit einer durch und durch antisozialen Krankheit. Das Landbierparadies nennt der frühere Schornsteinfeger „mein zweites Wohnzimmer“. Was man halt so über seine Stammkneipe sagt. Doch Weber ist bettlägerig und verbringt so viel Zeit in seinem ersten Wohnzimmer, das zugleich sein Schlafzimmer ist, dass diese kleinen Fluchten für ihn eine große Sache sein müssen. Anfang 2022 ist er in eine Zweizimmerwohnung gegenüber dem Stadtpark gezogen.
In der Anlage leben hauptsächlich alte Menschen, Weber ist 56. Seine Frau Gabi wohnt einmal über den Flur, der breit genug ist, um Krankenbetten durch das anonyme Haus zu schieben. Ihr Mann wird rund um die Uhr gepflegt. Er kann sich so gut wie nicht mehr bewegen, kaum noch sprechen. Um sich mitzuteilen, benutzt er die Augen, mit denen er einen Sprachcomputer steuert. Stellt man Weber eine Frage, dauert es eine Weile – und eine Frauenstimme antwortet. Meistens kommt sie aus dem Computer, manchmal ist es auch seine Ehefrau Gabi, die ihren Mann lesen kann wie niemand sonst.
Auf Webers Balkon hängt eine Fahne des 1. FC Nürnberg. Von seinem Bett aus kann er sie sehen, selbst betreten hat er den Balkon noch nie. Seine Welt ist durch die Krankheit mehr und mehr in sich zusammengeschnurrt – doch an der großen weiten Welt ist er interessiert wie eh und je. Früher im Urlaub sei er ständig auf der Suche nach einer aktuellen Süddeutschen gewesen, erinnert er sich. Bis heute ist er Fan von „Streiflicht“, den Radiosender Bayern 2 schätzt er ebenfalls. Aber häufig läuft auch einfach der Fernseher, erst recht, wenn sein Verein spielt.
Als ich für die taz zu Besuch komme, schaltet Weber das Gerät aus. Plötzlich ist es sehr still im Zimmer. Die Wanduhr tickt, die Beatmungsmaschine zischt und gluggert. Es ist keine angenehme Stille. Im Nebenzimmer plaudert Ehefrau Gabi mit der ungarischen Pflegerin. Ehrlich gesagt wäre ich lieber dort nebenan. Ich fühle mich unsicher. Was kann ich fragen? Was wäre indiskret?
Als Journalist ist man eigentlich ganz gut geübt darin, mit Menschen ins Gespräch zu kommen und über Smalltalk ein Gefühl für sein Gegenüber zu entwickeln. Dieses Abtasten ist mit Weber kaum möglich. Ich fühle mich wie ein Anfänger. Das Gespräch soll möglichst nicht verstummen und ich möchte ihn bloß nicht verstimmen, ihm nahekommen, ohne ihm zu sehr auf die Pelle zu rücken.
Ehefrau Gabi löst die angespannte Stimmung auf und bringt zwei Flaschen „Fürst Carl Dunkel“ aus Webers Geburtsort Ellingen, die wir in Krüge umfüllen. Sein Tonkrug ist ein Souvenir vom Fünf-Seidla-Steig, einem Bierwanderweg durch die Fränkische Schweiz, auf dem man in fünf Brauereigasthöfen einkehren kann. Alle, die ihn mal gelaufen sind, schwärmen davon. Markus Weber gehörte selbstverständlich mehrfach dazu. Später ist er aber dazu übergegangen, seine Favoriten gezielt anzusteuern, weil ein Seidla schlicht nicht reicht, wenn es schmeckt.
Ein Braumeister schickt ihm Kisten mit „bierigem Gruß“
Das Einschenken war der leichte Teil der Übung, jetzt wird es wieder ein bisschen komplizierter. Es fühlt sich merkwürdig an, Weber zuzuprosten, ohne dass der darauf reagieren kann. Und auch trinken kann er ja nur mit meiner Hilfe. Zaghaft führe ich ihm den Krug an den Mund und achte darauf, dass er den Strohhalm mit den Lippen zu greifen bekommt. Einmal angesetzt, trinkt Weber, die Schlucke erstaunlich kräftig, die Augen weit geöffnet. Wenn das Saugen aufhört, gönne ich ihm, gönne ich uns eine kurze Pause und ziehe mich ein, zwei Schritte zurück.
Ich komme Weber unwillkürlich sehr nahe; in der Vorwärtsbewegung streift die Hand mit dem Krug beinahe sein Gesicht. Würde ich ein Baby füttern, würde mich das nicht stören, aber Weber ist ein erwachsener Mann, und diese Nähe macht mich befangen.
Wie gerne Markus Weber Bier trinkt, hat sich herumgesprochen. Gerade erst hat ein Bekannter, laut Briefkopf „Historischer Braumeister Bierstadt Bamberg“, wieder eine Kiste geschickt, „dass du nicht verdurstest“. Die handgeschriebenen Zeilen enden mit einem „bierigen Gruß“. Dass ihm die Vorräte ausgehen könnten, ist jedenfalls Webers geringste Sorge. Was müssen das für Idioten sein, die angesichts seines Bierkonsums die Nase rümpfen, sich gegenüber einem Todkranken als Gesundheitsapostel aufspielen? Kein schlechter Scherz, das ist alles schon vorgekommen.
Auch ich habe Weber einen Sechser-Pappträger mit gemischten Bieren einer kleinen Brauerei aus dem Bamberger Land mitgebracht. Der wird eher früher als später auf Facebook verkostet werden. Weber postet fleißig, mehrmals in der Woche. Im Bett trägt er Brille, auf seinen Fotos so gut wie nie. Weber genießt die Aufmerksamkeit.
Man kann es wohl so zusammenfassen: Markus Weber ist der unumstrittene Star von „Wir lieben Bier aus Franken!“, weil er durch sein Beispiel zeigt, was Liebe ist und Leidenschaft.
Im Flur steht Webers Elektrorollstuhl und wartet auf den nächsten Ausflug ins Landbierparadies. Auch ihn steuert er mit den Augen, wenn er bei schönem Wetter durch die Gegend düst. Man habe ihm gesagt, er sei ein Naturtalent, spricht die Frauenstimme aus seinem Sprachcomputer. Per WhatsApp schickt Weber später ein Video aus dem vergangenen Sommer. Er trägt eine spezielle Steuerbrille und kurze Hosen. Er sieht glücklich aus.
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