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Unterwegs für den Fluss: aktivistischer Protest entlang der Oder Foto: Jonas Wahmkow

Marsch für die OderDen Fluss persönlich nehmen

Die Oder steht vor Problemen. Deswegen sind ein Jahr nach dem katastrophalen Fischsterben Aktivisten am Fluss unterwegs, um für sie als Rechtsperson zu werben.

A m morgendlichen Treffpunkt des „Marschs für die Oder“ bietet der Fluss ein malerisches Bild. Hier am polnischen Dorf Czelin, über 600 Kilometer von seiner Quelle in den tschechischen Oderbergen entfernt, fließt der Fluss in gemächlicher Breite. Die Morgensonne spiegelt sich auf der glatten Oberfläche, zwei Schwäne fliegen vorbei und an den üppig bewachsenen Uferwiesen grast eine Herde Kühe. Die andere Uferseite sieht ähnlich idyllisch aus. Nur ein halb verwahrlostes Schild mit der Aufschrift „Granica Państwa“ – Staatsgrenze – weist darauf hin, dass dort deutsches Staatsgebiet beginnt.

Alicja Witucka-Piskorska wartet unter der Hütte eines Wandersrastplatzes auf Mitstreiter:innen, die sich der heutigen Tagesetappe anschließen wollen. Noch ist es frisch, die 60-Jährige trägt eine graue Funktionsjacke, über ihrem Rucksack hängt ein selbst gemaltes Banner mit dem Titel des Marsches. „Osoba Odra“ steht dort mit blauen Lettern – auf Deutsch „Person Oder“. „Mal gucken, wer heute noch auftaucht“, sagt sie in etwas unsicherem Englisch.

Knapp 24 Kilometer liegen heute vor uns, wo immer es geht am Ufer der Oder entlang. Bereits 34 Tage zuvor hat sich eine kleine Gruppe von Um­welt­ak­ti­vis­t:in­nen aufgemacht, die Oder bis zu Mündung in die Ostsee abzulaufen. Ihre Forderung: Ähnlich wie ein Unternehmen soll der Fluss als juristische Person anerkannt und mit eigenen Rechten ausgestattet werden. Dann, so hoffen die Umweltaktivist:innen, könnten sie und andere Ver­tre­te­r:in­nen im Namen des Flusses rechtlich effektiver gegen die Zerstörung des Ökosystems vorgehen.

Der Marsch ist daher offen gestaltet. Jeder kann mitmachen, zu den morgendlichen Treffpunkten zustoßen, die auf der Website veröffentlicht werden, und einen Tag oder mehrere mitlaufen. Länger dabei sind nur Marschlei­te­r:in­nen wie Alicja, die sich verpflichten, eine mehrtägige Etappe von insgesamt rund 100 Kilometern zu laufen. Gestartet ist der Marsch mit 9 Leuten, bei einigen Etappen waren es sogar 40 bis 50 Menschen. Am Tag zuvor besuchte eine Gruppe von über 20 Aktivist:innen, die sich in Deutschland gegen den Oderausbau einsetzten, den Marsch.

Der Fluss als Person

Die Idee

Nicht-Menschen vor dem Gesetz als Träger von Rechten anzuerkennen, ist ein altbekanntes Konzept. So gelten zum Beispiel Vereine und Unternehmen als Träger von Rechten und Pflichten. Ökosysteme wie die Oder als Rechtspersonen anzuerkennen, würde es ermöglichen, ihnen Rechte zu verleihen, die dann aktiv eingeklagt werden können. Da die Oder nicht selber klagen kann, sieht der Gesetzesentwurf von Osoba Odra vor, dass der Fluss von einem Komitee aus Umweltverbänden, Regional- und Regierungsvertreter:innen repräsentiert wird.

Die Vorbilder

Die Idee hat international einige Vorbilder. So gelang es 2017 den indigenen Maori, auf Neuseeland den Fluss Whanganui als Rechtsperson anerkennen zu lassen. Auch in den Verfassungen Boliviens und Ecuador sind die Rechte der Natur fest verankert. Die Idee mit indigenen Wurzeln verbreitet sich auch in Europa – 2022 erkannte die spanische Regierung die Lagune Mar Menor als Rechtsperson an.

Heute taucht allerdings niemand weiteres auf, zusammen mit Marta Granocha-Cieciwra, einer 34-jährigen Datenanalystin aus Warschau, die seit zwei Tagen mitläuft, bleiben wir zu dritt: „Der Marsch ist wie der Fluss, manchmal ist er stärker, manchmal ist er schwächer“, sagt Alicja lächelnd.

Die Idee für den Marsch entstand im vergangenen Sommer als Reaktion auf das massenhafte Fischsterben in der Oder. Der Anblick und Gestank Tausender toter Fische, die zunächst ohne bekannte Ursache langsam verwesend auf der Oberfläche des Flusses herumtrieben, war auch in Polen ein Weckruf, sich ernsthafter mit dem Zustand des Flusses zu beschäftigen.

Tote Fische in der Oder im Sommer 2022 Foto: dpaPatrick Pleul/picture alliance

„Nach der Katastrophe hatte ich das Gefühl, ich müsste etwas tun“, sagt Alicja. Auf Facebook sah sie einen Post des polnischen Schriftstellers Robert Rient mit dem Vorschlag, einen Protestmarsch für die Oder zu organisieren. Die kürzlich pensionierte Biologielehrerin war sofort begeistert und wurde mit zwei Dutzend weiteren Ak­ti­vis­t:in­nen Teil des Kernteams.

Die Ursachen für das Fischsterben sind mittlerweile gefunden. Ex­per­t:in­nen im Auftrag des Bundesumweltamtes konnten in Proben massenweise das Gift der Goldalge nachweisen, einer Pflanze, die normalerweise nicht in Flüssen, sondern nur in deutlich salzhaltigeren Gewässern gedeiht. Doch durch unkontrollierte Einleitungen der Tagebaue am oberen Flusslauf stieg der Salzgehalt des Flusses, in Verbindung mit durch Klimawandel bedingtem Niedrigwasser und warmen Temperaturen kam es zu einer Algenblüte. Über 400 Tonnen Fisch, Muscheln und Schnecken verendeten – schätzungsweise die Hälfte des damaligen Bestandes.

Trotz Beteuerungen der polnischen Regierung, den Salzgehalt stärker zu überwachen und Einleitungen schärfer zu kon-trollieren, halten es Ex­per­t:in­nen weiterhin für möglich, dass es auch in Zukunft wieder zu einem Massensterben kommt. Bereits Ende April kam es in einem Stausee bei Breslau zu einem Fischsterben, auch hier stellten die Behörden eine erhöhte Konzentration der Goldalge fest.

Die Angst, dass sich das Sterben wiederholt, motiviert auch Marta. „Alle Berichte machen deutlich, dass die Minen für das Sterben verantwortlich sind. Doch trotzdem ist nichts passiert. Das machte mich sehr wütend“, sagt sie. Die Diskussionen, die die Katastrophe im vergangenen Jahr ausgelöst habe, seien mittlerweile abgeebbt, die Pro­bleme würden aber weiter bestehen. Mit dem Marsch hofft sie, die Diskussion in Polen wieder anfachen zu können.

Alicja Witucka-Piskorska und Marta Granocha-Cieciwra fordern „Osoba Odra“, die Oder als Person Foto: Jonas Wahmkow

Für Marta ist die Beziehung zur Oder sehr persönlich. Ihre Großeltern leben in Gryfino, einer Kleinstadt nahe der Mündung. „Ich habe sehr viele positive Erinnerungen aus meiner Kindheit an den Fluss.“ Die Katastrophe im vergangenen Jahr habe sie deshalb besonders schockiert.

Die Oder gilt als eine der letzten naturnahen großen Flusslandschaften Mitteleuropas

Wir laufen los, flussabwärts entlang der deutsch-polnischen Grenze. Knapp 200 Kilometer weiter wird die Oder bei Stettin in die Ostsee münden, für heute reicht uns erst einmal das kleine Dörfchen Stara Rudnica als Ziel. Der erste Teil der Strecke führt durch einen dichtbewachsenen Wald, unzählige Mücken schwirren umher und freuen sich über menschliche Gesellschaft. In der ausgedehnten Flusslandschaft mit seinen zahlreichen Feuchtwiesen und Auenwäldern finden nicht nur Mücken beste Bedingungen vor – auch zahlreiche seltene Pflanzen- und Insektenarten wachsen hier.

Die Oder gilt als eine der letzten naturnahen großen Flusslandschaften Mitteleuropas. Im Gegensatz zu vielen Flüssen auf deutschem Staatsgebiet halten sich die menschlichen Eingriffe auf den Fluss bislang noch in Grenzen.

Staustufen, Begradigungen und Fahrrinnenvertiefungen, die den Fluss bändigen und somit auch schwereren Schiffen ermöglichen sollen, Waren und Menschen auf- und abwärts zu transportieren, gab es zwar auch hier, doch ein Großteil der Regulierungsmaßnahmen stammt noch aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. In der Zwischenzeit wurde die Oder weitgehend sich selbst überlassen, wodurch sich ein artenreiches und einzigartiges Ökosystem bilden konnte.

Doch Schadstoffeinleitungen und Klimawandel sind nicht die einzigen Bedrohungen für dieses Ökosystem. Schon seit Jahren versetzten die Pläne der polnischen Regierung, die Oder umfassend auszubauen, Um­welt­schüt­ze­r:in­nen in Alarmbereitschaft. Unter dem Vorwand des Hochwasserschutzes treibt sie die Vertiefung der Oder voran.

Kurz hinter dem Dorf Gozdowice, das wir gegen Mittag erreichen, sind die kniehohen Uferwiesen durchbrochen von sandigen Bauwegen. Während wir laufen, fährt ein Laster an uns vorbei. Am Ufer stehen Bagger, neben ihnen riesige Geröllhaufen aus hellem Gestein; alle paar hundert Meter wiederholt sich die Szenerie. Statt Naturidylle wirkt die Oder hier eher wie eine Großbaustelle.

Ein herumstehender Bauarbeiter schüttelt auf die Frage, woran er und seine Kollegen arbeiten, bloß den Kopf. Marta reagiert gelassen: „Die sind wie unsere Politiker. Bloß nicht mit den Umweltaktivisten reden, aus Angst, dass wir uns weiter aufregen.“

Die studierte Biologin, die ehrenamtlich in einer NGO für den Erhalt von Flusslandschaften aktiv ist, erklärt, was es mit den Gesteinshaufen auf sich hat. Als erste Maßnahme, um den Fluss zu vertiefen, lasse die Regierung neue Buhnen bauen. Dabei handelt es sich um kleine Dämme, die in regelmäßigen Abständen zur Flussmitte hin verlaufen. Dadurch werde das Wasser im Fluss in die Mitte gedrängt, erklärt Marta. “Dadurch erhöht sich die Fließgeschwindigkeit in der Mitte. Die Hoffnung ist, dass der Fluss dadurch tiefer wird, weil mehr Sedimente abgetragen werden.“

Die Vertiefung erfolgt vorgeblich, um im Winter den Einsatz von Eisbrechern zu ermöglichen, welche die Gefahr von einem durch Eisstau entstehenden Winterhochwasser verhindern sollen. Das Risiko für die deutlich häufiger vorkommenden Sommerhochwasser wird mit der Maßnahme allerdings erhöht, wie ein Gutachten des Deutschen Naturschutzrings von 2018 belegt. Hochwasserkatastrophen wie das Oderhochwasser 1997 oder zuletzt 2010 sind An­woh­ne­r:in­nen auf beiden Seiten des Flusses noch gut im Gedächtnis.

Ein Lastenkahn auf der Oder, entlang einer schon etwas mit Buhnen disziplinierten Natur Foto: Jonas Wahmkow

Umweltverbände wie „Save Oder“, ein Bündnis aus deutschen, tschechischen und polnischen Naturschutzorganisationen, das sich zum Erhalt der Oder gegründet hat, vermuten daher, dass die Hauptmotivation ist, die Oder als Wasserstraße für die Binnenschifffahrt auszubauen. Der Fluss soll in Zukunft Teil des europäischen Wasserstraßennetzes werden und ermöglichen, Waren von der Elbe über die Oder und Donau bis hin zum Schwarzen Meer zu transportieren.

Die Folgen der Vertiefung für die Oder wären verheerend. Besonders die Auenlandschaften und Feuchtwiesen würden durch die einhergehende Absenkung des Grundwasserspiegels trockenfallen. Die zusätzlichen am Oberlauf geplanten Staustufen erhöhen die Gefahr einer Goldalgenblüte noch weiter, da das Wasser hinter den Staustufen steht, sich stärker erwärmt und den Algen somit bessere Bedingungen bietet. Auch wären sie unüberwindbare Hindernisse für Fische, die bislang den Fluss von der Mündung ganze 500 Kilometer ungestört hochwandern können.

Aber wie könnte bei diesen gravierenden Problemen der Oder die Anerkennung des Flusses als juristische Person, wie sie der Marsch fordert, helfen? Immerhin missachtet die polnische Regierung schon jetzt ein Gerichtsurteil, das eigentlich einen sofortigen Baustopp angeordnet hat. „Uns geht es nicht nur um das Gesetz“, sagt Alicja mit Anspielung auf den Gesetzesentwurf, den die Initiative entworfen hat, „sondern auch um einen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft.“

Man müsse den Menschen zeigen, wie eng sie mit der Natur verbunden seien. Wenn sie die Schönheit eines Ökosystems wie der Oder erkennen und begreifen würden, dass sie sowohl Teil davon und als auch darauf angewiesen seien, dann würde automatisch das Bedürfnis entstehen, es zu beschützen, erklärt Alicja. „Unsere Botschaft ist sehr optimistisch“, sagt sie lächelnd, als Lehrerin wisse sie, wie man Menschen motiviere.

Die Oder als Person, sogar als Verwandten darzustellen, wie die Ak­ti­vis­t:in­nen von Osoba Odra es tun, helfe dabei, diese Beziehung zur Natur zu vergegenwärtigen. Eine, die nicht wie in der Tradition der europäischen Moderne auf Unterordnung und Ausbeutung basiert, sondern auf Ebenbürtigkeit.

wochentaz

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Auch für Menschen, die die Oder nie persönlich erlebt haben, leiste das Ökosystem viel, erklärt Marta, während links neben uns auf dem Fluss ein mit Steinen beladener Lastenkahn vorbeifährt. So filtere das Schilf an den Ufern die Düngemittel aus der Landwirtschaft. Anstatt die Schilffelder durch den Ausbau zu zerstören, brauche es eigentlich noch viel mehr davon. Die Ostsee leide unter immer heftigeren Algenblüten, die zur Ausweitung von sauerstofflosen „Todeszonen“ führten, in denen kaum noch Leben möglich sei. „Der Fluss sollte Platz haben, sich selbst zu reinigen“, sagt Marta. Schließlich sei das sein gutes Recht.

Wie schön, wenn die Oder das auch vor Gericht einfordern könnte.

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