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Die fremden Gewürze der Kindheit

HERKUNFT Laos, Moskau, Potsdam: André Kubiczek erzählt seine sozialistisch-internationale Familiengeschichte

Die Eltern erlebten als Studenten in Moskau eine internationale Avantgarde als Utopie

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Der Geschmack des Mittagessens ist im dritten Kapitel von André Kubiczeks Buch „Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn“ am intensivsten. Er dampft geradezu aus den Zeilen; sie schmecken nach Rindfleischbrühe und handgeschnittenen Nudeln, nach Hefeklößen und Pflaumenkompott, nach Makkaroni mit Jagdwurstgulasch.

Es ist die Küche der Großmutter, die der Erzähler von André Kubiczeks autobiografischem Roman in einem fast rauschhaften Flashback erinnert, Jahrzehnte später, am Bahnhof jener kleinen Stadt im Harz, in der er als Kind seine Ferien verbrachte. Er sortierte Briefmarken mit dem Großvater, besonders interessant waren die vom Deutschen Reich, zu dem der Großvater seine Ansichten ansonsten besser unter Verschluss hielt. Und Kohlen haben sie geschippt, den Vorrat für einen ganzen Winter an einem Nachmittag in den Keller gebracht. Jede Muskelfaser, die ihm damals wehtat, scheint ihn jetzt zu unterstützen im Wiederaufruf des Glücks jener Tage, in der Rekonstruktion ihrer Unmittelbarkeit.

Weitaus blasser bleibt dagegen der Geschmack der Küche seiner Mutter. Dass schwer zu beschaffende asiatische Gewürze dazugehörten und die Gerüche die Nachbarn im Wohnblock am Potsdamer Stadtrand gegen die junge Frau aus Laos aufbrachten, das weiß der Erinnerung Suchende noch. Und knüpft daran feinfühlig eine Episode, die die Linien der Ausgrenzung, der Erzeugung des sich Fremdfühlens im Leben der Mutter nachzeichnet, auch gerade da, wo sie kaum sichtbar waren.

Aber dennoch kann er den Geschmack ihres Essens nicht erzählen, dabei ist doch ihr das Buch gewidmet. Die Großmutterküche macht ihn beredt, die Mutterküche nicht, als ob seine Zunge nur die eine Sprache hätte lernen können. Und damit ist der große Schmerz in diesem Muttersuchbuch benannt: Ihr, die an Krebs starb, als er sechzehn war, kommt er nie so nahe wie anderen Personen. Trotz Recherchereise nach Laos, in das Land ihrer Herkunft, trotz der überraschenden Vertrautheit mit seinen bis dahin unbekannten Verwandten, trotz langer Gespräche mit seinem Vater.

Sein Kumpel Kupfer etwa, der den Jahren des Erzählers bei der Nationalen Volksarmee die entscheidende Kontur gibt, steht auf seinen kaputten Füßen, mit seinen altmodischen Berliner Redeweisen, seiner proletarischen Selbstinszenierung und gemeinen Machtspielchen ziemlich plastisch vor den Augen des Lesers. Oft ist es auch der Erzählrhythmus, das geschmeidige Gleiten zwischen den Zeiten, mit dem Kubiczek einen großen Sog entwickelt. Wenn er sich zum Beispiel an die vielen Fahrten ins Krankenhaus erinnert, zuerst noch mit beiden Eltern zu seinem seit einem Unfall behinderten Bruder, später zur Mutter, dann wird aus der Fahrt von Potsdam nach Berlin, mauerbedingt im großen Bogen um Westberlin herum, ein die Jahre durchdringender Blues. Das Älterwerden rettete nicht vor der Wiederholung des Schmerzes und der Wiederholung der Ohnmacht am Bett der Kranken.

Vorsichtiger, unbeweglicher und auch etwas hölzern ist seine Sprache hingegen dort, wo er die Geschichte seiner Eltern erzählt. Sie lernten sich als Studenten in Moskau kennen, er ein Arbeitersohn, sie die Tochter eines laotischen Ministers, der bei einem Attentat ermordet wurde. Kubiczek hat seinem Vater erst spät nach dieser Zeit gefragt, er selbst ist verwundert über sein Nichtwissen, sein langes Nichtnachfragen. In der Genauigkeit, mit der er die Umstände des Gesprächs beschreibt, drückt sich der nicht ausgesprochene Aufwand an Emotionen aus, die beide dieser Weg in die Vergangenheit kostete.

Doch wenn er dann von seinem Vater nur als „der junge Mann“ und von seiner Mutter als „das Mädchen“ berichtet, ist man als Leser irgendwie auch enttäuscht. Der Ort ist historisch interessant, die Studenten, die in Moskau eine internationale Avantgarde als Utopie erleben, dazu eine Liebesgeschichte mit Risiko, Agenten, Verwandten und Bürokratien, die sich querstellen. Die Handlungen zeugen von großen Leidenschaften, der Ton der Erzählung aber bleibt seltsam sachlich.

Aber vielleicht macht gerade das, das so deutliche Schwanken des Vermögens, sich in andere hineinzuversetzen, das Buch auch wahrhaftig. Je näher er seinen Eltern kommt, desto mehr steht der Sohn dem Schriftsteller im Weg; Respekt vor ihrem Fleisch und Blut lässt sie nur zögerlich als Romanfiguren ausmalen.

„Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn“ ist das fünfte Buch des 1969 in Potsdam geborenen Autors, der 2002 für seinen Erstling „Junge Talente“ große Anerkennung erhielt, gerade auch für den Blick auf seine Generation. Doch diesmal gedeihen seine Fiktionen in einiger Distanz zum autobiografischen Skelett besser als in deren Zentrum.

André Kubiczek: „Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn“. Piper Verlag, München 2012, 480 Seiten, 22,99 Euro

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