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Entdeckungen im Estnischen KunstmuseumPostsowjetische Schatzkammern

Das Estnische Kunstmuseum in Tallinn überrascht mit Zeugnissen einer Zeit geprägt von Trauer, Galgenhumor und Subversion. Hier sind sie unbekannt.

Postsowjetische Installation: Raoul Kurvitz, Pentatonic Color System II. 1993/1999 Foto: Eesti Kunstimuseum

Z wischen einer Reihe bemerkenswerter Selbstporträts von Künstlerinnen wie Künstlern sticht ein „Autoportree pärlitega“, ein Selbstporträt mit Perlenkette, besonders ins Auge. Gemalt hat es Karl Pärsimägi (1902–1942), datiert ist es auf das Jahr 1935. Männer in Crossdressing findet man einige in der Kunstgeschichte – aber wer hat sich zu dieser Zeit schon selbst entsprechend por­trä­tiert, mit direktem Blick in Richtung Betrachter?

Auch die anderen Arbeiten des Künstlers bleiben hängen: Außenansichten und Interieurs von einer ganz eigenen Farbigkeit, die er mit schnellem, betont grobem Strich festhielt oder wohl besser erschuf. Man kann sich gut vorstellen, dass Pärsimägi in seiner späten Wahlheimat Paris als aufstrebender Maler gehandelt wurde. Dazu kam es nicht: Die Nationalsozialisten und ihre Vichy-Verbündeten beendeten sein Leben jäh. Vermutet wird, dass er als Homosexueller verfolgt und in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde.

Zum ersten Mal im Kumu, dem Estnischen Kunstmuseum in Tallinn, zu Besuch, machten wir nicht eine, sondern unzählige solcher Entdeckungen. Jede Wand des mehrstöckigen Gebäudes mit seiner Dauersammlung durch mehrere Jahrhunderte förderte neue Künstlerinnen und Künstler zutage, deren Bilder man noch nie zuvor gesehen hatte – also auch nicht in kunstgeschichtlichen Bänden abgedruckt oder in den internationalen Kunstmagazinen im Netz besprochen.

Der Nationalsozialismus nimmt dabei, das fällt auf, eher eine Nebenrolle ein. Deutlich präsenter ist die Ära der Sowjetunion. Dokumente von Performances, urkomische bis tiefmelancholische Malerei, architektonische Interventionen im öffentlichen Raum, Gebrauchs- und Kunstgrafik, Zeichnungen. Unzählige Zeugnisse einer Zeit, die oft von Trauer, Ärger, lähmender Schwere, aber auch Galgenhumor und einer gigantischen künstlerischen Subversion geprägt war. Die Ära der 1990er Jahre mit ihrem auch künstlerisch-medialen Aufbruch wäre damit noch gar nicht beschrieben.

Geschichte ist komplex

Eine aktuell sehr virulente Auseinandersetzung innerhalb postsowjetischer Kunst- und insbesondere Filmschaffender formuliert gerade ein Themenpanel beim Go-East-Filmfestival, das am Wochenende in Wiesbaden startet: „Decolonizing the (Post-)Soviet Screen“ soll Anlass zur Diskussion bieten, inwieweit das Konzept sich auf die heutigen Staaten Zentralasiens, der Ukraine, Belarus, die baltischen Länder, den Kaukasus und die Russische Föderation mit ihren autonomen Regionen übertragen ließe.

Dabei geht es auch um ganz praktische Fragen wie die Wiederentdeckung filmischer Arbeiten jenseits der Epizentren Moskau und Sankt Petersburg.

Geschichte ist komplex, doch gerade die Künste bieten Raum für solcherlei Paradoxien und Ambivalenzen. Wenngleich die Forderung nach Freiheiten oft unmissverständlich formuliert wird. Das führt bisweilen zu interessanten Verrenkungen im Kulturbetrieb, wo man sich etwa zwar öffentlichkeitswirksam mit den Ukrai­nerinnen und Ukrainern solidarisiert, zugleich aber traditionell skeptisch dem Westen als Idee und Versprechen gegenübersteht.

In den Malereien, Performances und Videos von Künstlerinnen und Künstlern zur Zeit der Sowjetunion wie in den Werken osteuropäischer Filmemacherinnen und -macher heute ist da bisweilen ein ganz anderes Niveau an Ambiguitätstoleranz formuliert. Auch bei der eigenen identitätspolitischen Verortung. Doch selbst ganz ohne tagesaktuelle politics lohnt sich das Anschauen und Hinhören, allein, um den eigenen Blick auf die (Kunst-)Geschichte zu weiten und vertiefen.

In Tallinn, Vilnius und vielen weiteren Metropolen Osteuropas gibt es ganze Dekaden, vielleicht eher Jahrhunderte nachzuholen. Und die Sammlungen der postsowjetischen Schatzkammern werden wie ihre Künste laufend fortgeschrieben.

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