Analoges in der Kunst: Transzendenz der Beauty-Akademie
Trotz Digitalversessenheit kommt man in Kunst und Kultur immer wieder aufs Analoge zurück. Verändert die Materie denn ein Bild?
In den 1990er Jahren dachte man eine Weile, dass jeglicher Vorzug von Materie rückwärtsgewandter Unsinn sei. Mit dem Siegeszug des MP3-Formats wurde selbst in einschlägigen Musikmagazinen verkündet, die digitale Komprimierung könne das Hörerlebnis nicht verändern. Jedenfalls nicht hörbar. Wer etwas anderes behaupte, sich gar auf Schallplatte oder Tonband zurückbesinne, sei mindestens esoterisch.
Ähnlich gingen auch die Überlegungen zu den visuellen Medien los. Sie halten bis heute an. Doch sie haben in den Bildkünsten oft zu interessanten (Zwischen-)Resultaten geführt.
Verändert die Materie das Bild? Die schwarz-weißen Handabzüge der kanadischen Fotografin Lynne Cohen (1944–2014) würde ich sofort als Antwort heranziehen. Das Schwarz so tief, dass der Bildraum ins Unendliche sich ausweitet, wenngleich er gut sichtbar schon an einer Wandplatte endet.
Natürlich ist es nicht das analoge Bild allein, auf dem Lynne Cohen Apartmentlobbys, Beauty-Akademien, Ämter und andere Kulissen des Alltags derart transzendieren lässt. Aber die nichtdigitale Ablichtung trägt womöglich dazu bei, dass der Bildraum eine so zwingende Wirkung im realen Raum entfaltet, ohne den Unterschied zwischen beiden aufzuheben.
Schichtungen der Räumlichkeit
Cohens Fotografien gaben den Architekturen, die dem Menschen im Alltag eine Bühne bereiten sollten, ihrerseits eine solche. Manchmal stellt sich das fantastische Arrangement bloß als kunstvoll dekorierter Blumenkübel heraus, der ins Bild rückt. Aber man meint, es könnte immer so weitergehen mit den Schichtungen der Räumlichkeit – und langweilig sind diese Raumfotografien nie. Anschauen kann man Lynne Cohens handabgezogene Analogfotografien jetzt in der Galerie von Jacky Strenz, kurz zuvor war davon eine kleine Auswahl auf der Art Basel zu sehen.
Auf der Kunstmesse in Basel fielen auch die sogenannten Tappeti-Natures auf, die Piero Gilardi (1942–2023) in den 1960er Jahren anfertigte: Reliefs aus bemaltem Polyethuranschaum, mit dem der Künstler Maiskolben, Fallobst und Gemüsebeete imitierte. In seiner ersten Arbeit, so Gilardi, sei „eine Nostalgie für eine bestimmte Art von Natur“ zugegen: „die Renaissance-Natur, die vom Industrialismus besiegt worden ist, und doch scheint mir, dass hier auch ein metaphorischer Embryo der heutigen Verbindung zwischen natürlich und artifiziell vorhanden war“.
Kein Wunder eigentlich, dass sie in den digitalversessenen, aber noch voll im Analogen verhafteten 1990er Jahren auf der 45. Biennale von Venedig wiederentdeckt wurden. Und auch Gilardis Naturidylle aus den Mitteln des industriellen Zeitalters gibt es jetzt in Frankfurt zu sehen, nämlich in der großen Gruppen- und Materialschau „Plastic World“ in der Schirn.
Ein paar Hundert Meter weiter spielen in einer Ausstellung des Städel Museums der Bildraum und seine Materialien eine Hauptrolle: „Herausragend!“ präsentiert eine Vielfalt an Reliefs, die zwischen zwei- und dreidimensionalem Raum changieren, zu ihrem Publikum heraustreten. Und zugleich ziehen sie ins Bild herein. Nicht nur in figurative Szenarien, sondern auch in die tiefblaue Schwammlandschaft eines Yves Klein oder heran an das wunderbar chaotische Essgelage eines Daniel Spoerri – oder was davon übrig blieb.