das wird: „Freiheit ist kein Gut für einige wenige“
Die Philosophin Elif Özmen erhellt das Wesen des Liberalismus
Interview Alexander Diehl
taz: Frau Özmen, warum ist jetzt ein guter Zeitpunkt, darüber nachzudenken, was der Liberalismus ist?
Elif Özmen: Ich sehe dafür zwei Gründe. Zum einen bietet Liberalismus ein dankbares Feindbild für sehr unterschiedliche Akteure von ganz links bis rechts im politischen Spektrum. Es gibt nur wenige gesellschaftliche Probleme oder Pathologien der Demokratie, für die am Ende nicht der Liberalismus verantwortlich gemacht würde. Der zweite Grund ist, dass nicht nur die Kritiker und Verächter ein Zerrbild vom Liberalismus haben.
Wer denn noch?
Einige derjenigen, die den Liberalismus im öffentlichen Diskurs verteidigen wollen, dabei aber nur einen Vulgärliberalismus meinen. Man konnte das in Zeiten der Coronapandemie beobachten, wo manche einen angeblich liberalen Freiheitsbegriff propagierten, der die Freiheit des Individuums schrankenlos über alle politischen und gesellschaftlichen Überlegungen stellte, aber eben auch über die Freiheit anderer Individuen. Viele aktuelle, teils sehr spannungsreich oder agonistisch debattierte Themen kreisen um eine bedrohte Freiheit. Auch bei den Verteidiger*innen gibt es also offensichtlich Missverständnisse.
Gibt es den einen Liberalismus oder sind es -ismen?
Ich denke, es sind -ismen. Es gibt ja ganz verschiedene Theorieströmungen, Wirtschafts- oder Rechtsstaatsliberalismus, klassischen, modernen oder Neoliberalismus. Die spannende Frage für mich als Philosophin: Können wir trotz dieser sehr unterschiedlichen und einander im Detail vielleicht sogar widersprechenden Theorieströmungen seit dem 17. Jahrhundert so etwas wie einen normativen Kern herausarbeiten?
Und – haben Sie so einen Kern gefunden?
Ich habe versucht, diesen Kern offenzulegen mit Bezug auf die drei normativen Prinzipien Individualismus, Freiheit und Gleichheit. Die einzelnen Teile dieses Trio liberale, wie ich es nenne, tauchen natürlich auch in anderen politischen Theorien auf, gerade die Freiheit. Typisch für den Liberalismus scheint mir die Vorrangstellung des Einzelnen als unverwechselbare, unersetzbare Persönlichkeit zu sein, der Vorrang der individuellen Freiheit, die aber stets gleiche individuelle Rechte für alle Menschen meint.
Während andere Systeme und Ideen anders priorisieren, etwa den Wert der Gleichheit höher ansetzen.
Ja, genau. Ein gutes Beispiel für eine dem Gedanken des Liberalismus widersprechende Priorisierung der Freiheit ist der Neoliberalismus. Weil die Freiheit hier reduziert wird auf die Freiheit als Marktteilnehmer. Extreme Ungleichheiten gelten einfach als hinzunehmender Effekt einer individuellen Freiheitsausübung in einem angeblich neutralen Wettbewerb. Diese Position würde die Mehrheit der liberalen Philosoph*innen nicht teilen, sondern sagen: Die Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit muss politisch so austariert werden, dass ein Mindestmaß an gleicher Freiheit für alle gewährleistet ist, gerade auch, wenn es um soziale und ökonomische Güter geht. Liberale Freiheit ist kein Gut für einige wenige, die sie sich angeblich verdient haben, sondern wertvoll für alle, ohne Rücksicht auf Verdienst, Leistung, Stand oder Herkommen.
Historisch gesehen mit blinden Flecken, ein bisschen wie die Aufklärung, oder?
Vortrag: „Was ist Liberalismus (nicht)?“, 27. 4., Haus der Wissenschaft, Bremen, 19 Uhr
Das ist ein wichtiger Punkt. Die Geschichte des Liberalismus, die ich selbst als Erfolgsgeschichte erzählen möchte, hat eine Schattenseite. Die gleiche Freiheit für alle, das meinte bis ins 19. Jahrhundert nur die Freiheit unabhängiger, wohlhabender, weißer, erwachsener Männer.
Und heute?
Heute müssen wir diese Schattenseiten ins Licht holen. Daher ist eine Kritik des Liberalismus unumgänglich. Gerade auch, wenn man ihn verteidigen möchte und sich fragt, ob und wie die normative Sprache der Gleichheit, Freiheit und des Individualismus zu unserer globalen Gegenwart mit den drastischen Herausforderungen und Ungerechtigkeiten passt.
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