: Ein Geheimnis umkreisen
„Wir hätten uns alles gesagt“ – die Schriftstellerin Judith Hermann hält eine Vorlesung über das Schreiben und macht daraus eine ungeahnt persönliche Erzählung
Von Claudia Ingenhoven
Die „Frankfurter Poetikvorlesung“ ist eine prestigeträchtige Angelegenheit. In jedem Semester wird eine Schriftstellerin oder ein Dichter in die Goethe-Universität eingeladen, über Literatur zu sprechen. Die Uni ist stolz auf die Namen derer, die mal das Publikum angezogen haben. Die Erste war im Wintersemester 1960 Ingeborg Bachmann, später zum Beispiel Uwe Johnson, Sarah Kirsch, Jurek Becker. Und im letzten Jahr Judith Hermann.
Sie hätte am liebsten abgesagt vor lauter Angst, nicht angemessen über ihre Arbeitsweise sprechen zu können. Andererseits: so eine Einladung lehnt man nicht ab, mahnte ihr Verleger. An drei Abenden hat Judith Hermann also „Vom Schweigen und Verschweigen in der Literatur“ berichtet. Die Resonanz war so großartig, dass sie schließlich einer Buchveröffentlichung zugestimmt hat.
Judith Hermann stellt dem Text eine Bemerkung voran. Sie wundert sich, dass die Vorlesung gar nicht so viel über ihre Arbeitsweise sagt, als habe sie das Schreiben über das Schreiben geradezu vermieden. Stattdessen hätte sich unerwartet viel Privates in den Vordergrund gedrängt, vor allem Menschen, die ihr Schreiben beeinflusst haben. Und damit ist schon erklärt, warum dieser Text nicht nur ein akademisches Publikum anspricht. Judith Hermann erzählt Geschichten und manchmal auch, wie sie entstanden sind: „Ich schreibe über mich. Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht.“
Zum Beispiel über die überraschende Begegnung mit ihrem Psychoanalytiker. Jahrelang war sie bei ihm in Behandlung, ganz klassisch saß er hinter ihr, während sie lag und sprach. Oder schwieg. Oder weinte. Er wusste viel über sie, sie fast nichts über ihn. Und jetzt, lange nach Beendigung der Analyse, trifft sie ihn nachts auf der Kastanienallee, beide leicht angetrunken. Sie folgt ihm in eine Kneipe, auch um zu fragen, wie er denn ihre Erzählung fand, die sie ihm in den Briefkasten gesteckt hat. Welche Erzählung? Er habe keine bekommen.
Die Szene ist aufregend, nicht nur für Menschen, die die besondere Beziehung zwischen Patientin und Analytiker nachvollziehen können. Dass jemand sagt, er habe die Post gar nicht bekommen, ist beunruhigend, besonders, wenn es um eine Herzensangelegenheit geht. Lügt er? Will er nicht aussprechen, wie er den Inhalt fand? Hat jemand anders die Post aus dem Kasten genommen und ihm vorenthalten? Er habe sie damals als etwas wehleidig empfunden, sagt der Analytiker noch, und sie reagiert nicht etwa gekränkt, sie findet, das passt.
Vielleicht hat sich das Wiedersehen der beiden genau so ereignet, vielleicht aber auch anders. Manchmal, wenn sie lange in einen Text eingetaucht ist, weiß sie selbst nicht mehr, was sie sich ausgedacht und was sie erlebt hat, sagt Judith Hermann.
Das gilt besonders für ihren ersten, 1998 erschienenen Erzählungsband „Sommerhaus, später“. Sie erzählt darin von Menschen Mitte zwanzig, so alt wie sie selbst damals, die anders leben wollen als ihre Eltern. Die sich eine Wahlfamilie suchen zum exzessiven Feiern, Rauchen, Trinken, Quatschen – bis sie merken, dass viel geredet, wenig zugehört und gar nicht gefragt wird. Was Judith Hermann damals schreibend ausprobiert hat, wurde zur Prämisse ihrer Arbeit: Geheimnisse wahren, Weglassen, Drumherumschreiben.
Wenn sie diesmal von ihrer Kindheit erzählt, gibt sie dennoch viel preis. Vom Vater, der sie absichtlich in Angst und Schrecken versetzt, von der Mutter, die sich aus allem rausgehalten hat, von der Oma, ihrer Rettung: „Der Jähzorn brach aus heiterem Himmel über mich, über uns herein. Mein Vater raste. Er zerstörte das Mobiliar, zerbrach Dinge, er zerfetzte, zertrat, zerriss sie, er wütete, er hatte Schaum vor dem Mund, Anfälle.“
Diese dauerhafte Beunruhigung in einer chaotischen Wohnung, über die sie mit niemandem zu sprechen wagte, offenbart sie jetzt – einem Freund war ihre Geheimniskrämerei auf die Nerven gegangen. Und kaum hat sie sich vorgewagt, zieht sie sich zurück in Passagen über ihr literarisches Schreiben. Manche Sätze wirken wie ein Schutzpanzer, sie sind so hermetisch, dass man sie zweimal lesen muss, um die Verletzlichkeit dahinter zu verstehen.
Wer schon anderes von Judith Hermann gelesen hat, wird Figuren wiedererkennen. Die Freundin, das Kind, den Bruder, die jetzt in einer anderen Rolle auftreten. Judith Hermann formt und verändert, was sie erlebt, und sie hat sich entschieden, manches Vergangene ruhen zu lassen. Vielleicht lässt gerade diese Entscheidung am Ende eine schöne raue Liebesgeschichte zu.
Judith Hermann: „Wir hätten uns alles gesagt“. Buchvorstellungen:
31. 3., 20 Uhr, Theater im Delphi, Gustav-Adolf-Straße 2
3. 4., 19 Uhr, Knesebeck Elf
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen